Herausforderung Demenz:Wenn der "freie Wille" endet

Herausforderung Demenz: Wenn die Erinnerung verschwindet: Der Weg ins Reich des Vergessens ist lang - wann genau der "freie Wille" endet, können nur Fachleute einigermaßen zuverlässig ermitteln.

Wenn die Erinnerung verschwindet: Der Weg ins Reich des Vergessens ist lang - wann genau der "freie Wille" endet, können nur Fachleute einigermaßen zuverlässig ermitteln.

(Foto: Alpay Tonga/Unsplash)
  • Die Zahl der Demenzerkrankungen nimmt zu, derzeit liegt sie bundesweit bei 1,6 Millionen Menschen.
  • Zugenommen hat deshalb auch die Zahl juristischer Streitfälle beim Thema Erbe und Nachlass.
  • Im Grunde geht es dabei stets um die Frage, wann der "freie Wille" einer demenzkranken Person endet.

Von Wolfgang Janisch

Den Tod ihres Bruders konnte die alte Dame aus Detmold nur schwer verwinden, er war ihr letzter naher Verwandter. Zeit, die eigenen Dinge zu regeln, mag sie gedacht haben, sie war schon Mitte 80. Ein paar Monate später, im Juni 2010, nahm sie ein Blatt Papier, schrieb "Testament" darüber und notierte, eines ihrer Häuser solle ihr Nachbar bekommen, der regelmäßig Besorgungen für sie übernommen hatte. Aber war das richtig so? Sie zweifelte. Jahrzehntelang hatte sie sich, kinderlos und unverheiratet, neben ihrer Verwaltungskarriere ehrenamtlich für eine Stiftung der Kinder- und Jugendhilfe engagiert. Monate später ging sie zum Notar, das erste Testament hatte sie da schon halb vergessen. Alleinerbe sollte nun die Stiftung sein. Es ging um 400 000 Euro.

Es ist einer dieser Fälle, wie sie in Deutschland immer häufiger vorkommen. Alte Menschen, vielleicht nur etwas vergesslich geworden, vielleicht aber auch schon erheblich desorientiert, formulieren Testamente und verwerfen sie wieder, begünstigen heute den Sohn und morgen den in letzter Zeit so fürsorglichen Nachbarn - und wenn sie gestorben sind, müssen Gerichte rekonstruieren, ob sie dabei noch Herr ihrer Sinne waren. Juristen sprechen von "Testierfähigkeit", das ist die Schwester der Geschäftsfähigkeit beim Thema Erbe und Nachlass.

Es gibt dazu keine Statistiken, aber Praktiker bestätigen, dass solche Streitfälle stark zugenommen haben - als Folge zweier Entwicklungen. Erstens wird immer mehr vererbt. In Deutschland sind das 200 oder 300, vielleicht sogar 400 Milliarden Euro - im Jahr, hieß es 2017 in einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Zweitens werden die Menschen älter. Damit nimmt auch die Zahl der Demenzerkrankungen zu, derzeit liegt sie bundesweit bei 1,6 Millionen Menschen.

Jeder Mensch ist frei, im Testament auch irrationale Entscheidungen zu treffen

Demenz ist ein besonders heikles Feld, wenn es gilt, die Testierfähigkeit zu bestimmen. Denn der Weg ins Reich des Vergessens ist lang - wann genau der "freie Wille" endet, können nur Fachleute einigermaßen zuverlässig ermitteln. Dabei ist die rechtliche Definition ziemlich klar: Es reicht nicht, dass der Mensch noch irgendeinen Wunsch artikulieren kann, etwa eine spontane Enterbung aus momentanem Ärger. Ein wirksames Testament setzt vielmehr voraus, "dass es ihm bei der Testamentserrichtung möglich ist, sich an Sachverhalte und Ereignisse zu erinnern, Informationen aufzunehmen, Zusammenhänge zu erfassen und Abwägungen vorzunehmen", schreibt das Oberlandesgericht (OLG) München. Jeder ist zwar frei, im Testament auch irrational anmutende Entscheidungen zu treffen. Aber der Mensch muss noch zur Vernunft fähig sein - nur dann wird seine Unvernunft akzeptiert.

Das Gedächtnis ist dafür zentral. Wer die Erinnerung verloren hat, der ist vom "sinngesetzlichen Kontext" der biografischen Lebensentwicklung abgeschnitten, und zwar in beide Richtungen der Zeitachse, schreibt der Psychiater Clemens Cording: Nach hinten fehlt der Zugriff auf eigene Erfahrungen, nach vorne die Fähigkeit, aufgrund dieser Erfahrungen Konsequenzen einzuschätzen. Der Mensch ist, wenn man so will, aus seinem eigenen Leben herausgefallen.

In dem Text, den Cording gemeinsam mit dem Hirnforscher Gerhard Roth verfasst hat, heißt es aber auch: Der allmähliche Gedächtnisverlust ist kein gravierendes Problem, solange der Betroffene sich dessen bewusst ist und ihn kompensiert - etwa, indem er die Details nachschaut. Demenzkranken fehlt dagegen die Einsicht, dass die Erinnerungsfähigkeit schwach wird. "Altgedächtnisbestände" oder emotional besetzte Inhalte drängen sich nach vorne, aktuelle Ereignisse dagegen verblassen sofort. Wer aber nur noch auf Erinnerungsinseln lebt, hat den Überblick über die Realität verloren; der "freie Wille" ist, juristisch gesehen, verloren.

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