Kolumne: Vor Gericht:Publikum

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(Foto: Steffen Mackert)

Gerichtsurteile werden im Namen des Volkes gesprochen. Doch erst, wenn das Volk selbst anwesend ist, wird es interessant.

Von Verena Mayer

Manchmal passieren die interessanten Dinge nicht vorne, also dort, wo die Angeklagten und die Zeuginnen sitzen. Oder es, wie im großen Berliner Schwurgerichtssaal, über der Richterbank einen ausladenden Balkon gibt. Der wurde einst für den Kaiser gebaut, weil man als Monarch offenbar über dem Gesetz steht. Nein, die interessanten Dinge finden vor Gericht oft hinten statt, im Rücken der Prozessbeteiligten. Dort, wo das Publikum sitzt.

Dass Gerichte in der Öffentlichkeit tagen, ist eine Errungenschaft der modernen Rechtsprechung. Wurden früher hinter verschlossenen Türen Geheimprozesse abgehalten, soll heute das Volk mitverfolgen, welche Urteile in seinem Namen ergehen. Und das tut es auch. Im Zuschauerraum eines Gerichtssaals kommen die unterschiedlichsten Menschen zusammen. Man sieht Journalisten, angehende Juristinnen oder Schulklassen. Mütter werfen ihren Söhnen auf der Anklagebank Kusshände zu, Kumpels von Mitgliedern krimineller Gangs, denen der Prozess gemacht wird, sitzen breitbeinig auf den Holzbänken und gucken, wer in dem Prozess auftritt und etwas Belastendes aussagt. Und dazwischen Polizisten in Zivil, die wiederum diese Leute beobachten.

Manchmal hat die Stimmung im Publikum etwas von einem Betriebsausflug, wie im Prozess gegen eine Staatsanwältin, die sich in den Bankräuber verliebte, den sie anklagen sollte, und das Verfahren deswegen verschleppte. Im Zuschauerraum saßen Kolleginnen und Kollegen der Frau, und es war schwer zu sagen, ob aus Solidarität oder aus Neugier.

Gespenstisch war der Prozess gegen eine junge Frau aus einer Plattenbausiedlung, die ihre beiden kleinen Kinder so vernachlässigt hatte, dass sie starben. An jedem Verhandlungstag zwängten sich Verwandte, Bekannte, Nachbarinnen und Nachbarn der Frau in den Zuschauerraum. Sie buhten, wenn die Angeklagte etwas zu ihrer Verteidigung sagte, und jubelten, als die lebenslange Haftstrafe verkündet wurde. Als wäre das eine Show.

Man fragt sich, was Leute dazu bewegt, an einem ganz normalen Wochentag über Stunden in einem stickigen Saal zu sitzen und die oft langwierigen Verfahren zu beobachten. Wollen sie Verbrecher sehen, etwas über menschliche Abgründe erfahren? Einen Hinweis gaben die alten Damen auf dem Gerichtsflur. Es war die Hochphase von Corona, die Zahl der Sitzplätze war pandemiebedingt beschränkt. Ein Grüppchen weißhaariger Frauen wartete daher bereits seit sieben Uhr morgens vor dem Zuschauerraum. Sie hatten Thermoskannen und Zeitungen dabei, irgendwann griff eine von ihnen zum Handy. Sie rief eine Freundin an, die im Altenheim lebte, und sagte zu ihr, sie solle doch auch ans Landgericht kommen. Das sei wesentlich besser, als isoliert in einem Heim zu sitzen.

Kolumne
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In dieser Serie schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. Alle Folgen finden Sie hier.

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