Ehrenamtliche Flüchtlingshelfer:Zwischen Willkommen und Überrumpelung

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Wie viel Nähe sollen ehrenamtliche Helfer zulassen? (Foto: Thilo Schmülgen/dpa)

Als im Sommer immer mehr Asylsuchende in Deutschland ankommen, ist die Stimmung euphorisch. Und jetzt, vier Monate danach? Eine ehrenamtliche Helferin, ein Sozialarbeiter und ein Migrationsforscher erzählen.

Report von Hannah Beitzer, Hamburg

Als Deutschland im Sommer sein Willkommensfest feierte, feierte Christine Wagemann mit. Sie ging zu einer Gartenfeier, organisiert von Flüchtlingen und Einheimischen. Es waren etwa 100 Leute, es gab eine Tafel im Freien. "Eine tolle Stimmung, dieses bunte Gemisch an Leuten. Danach habe ich gesagt: Ich will mich kümmern."

Im April war ihr Mann gestorben. Sie hatte viel Zeit.

Wagemann, 74, kurze graue Haare, lebt in Kehdingen, einer ländlichen Gegend an der Elbe im nordlichen Niedersachsen. Früher hat sie als Physiotherapeutin gearbeitet. Jetzt sitzt sie in einem Café in Hamburg und erzählt von ihren Erfahrungen mit den Menschen, die in diesem Sommer nach Deutschland kamen.

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So wie Wagemann ging es Tausenden Menschen. Sie waren neugierig. Sie wollten helfen und sie halfen auch tatsächlich. Aber wie ging es weiter nach dem großen Willkommenfest? Was haben sie in den vergangenen Monaten gelernt?

Für Wagemann ging erst einmal alles sehr schnell. Die Gemeinde teilte ihr nach dem Sommerfest eine Familie aus dem Kosovo zu. Ein Vater, der sehr charmant gewesen sei, eine Mutter, im fünften Monat schwanger, und ein sechsjähriger Sohn. "Sie machten einen furchtbar netten Eindruck und mir ging das Herz auf, als ich den kleinen Jungen sah." Doch wenig später folgte die erste Irritation: Als sie das erste Mal mit der Familie in deren Wohnung war, sagte der Mann resolut: "Wir sind jetzt Freunde. Du besuchst uns, wir besuchen Dich. Jetzt fahren wir zu Dir!" Wagemann fühlte sich überrumpelt. "Auf der einen Seite fand ich sie nett, aber irgendwas sagte mir: Das kannst Du nicht machen."

Wie viel Nähe sollen Helfer zulassen?

Die Situation löste sich durch einen Zufall auf: Der kleine Junge war auf dem Sofa eingeschlafen. Und Wagemann konnte auf ihn deuten und sagen: "Ein andermal." Sie stand damit bereits am ersten Tag ihres Engagements vor Fragen, die viele Helfer umtreiben: Wie viel Nähe soll ich zulassen? Wo sind meine Grenzen?

"Nähe und Distanz sind ein großes Thema", sagt Sozialpädagoge Clemens Fobian, der in Hamburg Workshops für ehrenamtliche Flüchtlingshelfer anbietet. "Einerseits braucht ein Ehrenamt einen empathischen Zugang." Viele Helfer hätten persönliche Erfahrungen, die sie zum Engagement bewegen. Sei es die eigene Migrationsgeschichte, der Wunsch, mit anderen Kulturen in Kontakt zu kommen, oder - wie bei Wagemann - eine veränderte Lebenssituation, in der sie sich nach einer neuen Aufgabe umsehen.

Auf der anderen Seite müssten sie eine gewisse Distanz wahren. Allein, um nicht auszubrennen. "Manchmal erzählen Ehrenamtliche, dass sie nach einem Tag in der Notunterkunft ein schlechtes Gewissen haben, zu Hause in die Badewanne zu gehen", sagt Fobian. Und immer wieder taucht die Frage auf: Lade ich Flüchtlinge zu mir nach Hause ein, lasse ich sie gar bei mir übernachten? Er selbst rät dazu, diese Entscheidung gut abzuwägen. "Wenn jemand sich dafür entscheidet, sollte er sich fragen: Wie kann ich trotz des Besuchs ein Gefühl von Privatsphäre herstellen?"

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Wagemann fühlte sich bald ausgenutzt

Wagemann hat für sich entschieden: Mein Haus bleibt mein Rückzugsraum. Keiner der Geflüchteten, die sie betreut, kennt ihre Adresse. "Sie haben aber meine Handynummer und können jederzeit anrufen", sagt sie. Leicht gefallen sei ihr die Entscheidung nicht. Vor allem zu einer jungen syrischen Lehrerin hat sie ein enges Verhältnis. "Manchmal würde ich sie am liebsten zu mir nach Hause holen und sie den ganzen Tag betüteln", sagt Wagemann und lacht. Doch Grenzen sind Grenzen. Auch ihren echten Namen möchte Wagemann nicht in der Zeitung lesen, ebenso ihren Wohnort oder den der Geflüchteten. Auf dem Land kennt jeder jeden, da ist es schnell vorbei mit der Privatsphäre.

An ihre Grenzen stieß sie auch im Umgang mit der kosovarischen Familie im Sommer relativ schnell. Da war die Szene in der Kleiderkammer: "Anstatt sich um Winterschuhe für den Sechsjährigen zu kümmern, wollten sie unbedingt einen Kinderwagen. Dabei war die Frau erst im fünften Monat - und andere brauchten einen Wagen gerade dringender." Den Deutschkurs in der nahegelegenen Schule besuchte der Mann nur selten, die Frau gar nicht - die nächste Enttäuschung für Wagemann. Und dann war noch die Geschichte mit Dänemark: Der Kosovare erzählte Wagemann, er habe dort schon einmal gearbeitet. Wenig später sprach er plötzlich von Urlaub.

Schließlich gab es noch eine Situation bei der Migrationsbeauftragten des Landkreises. Als Wagemann mit dem Kosovaren ankam, seufzte die Mitarbeiterin nur und sagte: "Ach, der Beki. Wir wissen gar nicht, was wir mit dem machen sollen." Wagemann erfuhr von ihr, dass der Mann sich seit Monaten weigerte, seinen Pass abzugeben und so tat, als hätte er ihn verloren. Seine Chance, in Deutschland bleiben zu können, sei gleich null. Bei Wagemann blieb das Gefühl zurück: Man hat ihr einen Betrüger zugeteilt, der in seiner kurzen Zeit in Deutschland das Beste rausschlagen will. Sie fühlte sich ausgenutzt.

Solche Gefühle sind normal, sagt der Migrations- und Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani von der Fachhochschule Münster. Ehrenamtliche stünden ebenso wie professionelle Sozialarbeiter vor einer schwierigen Aufgabe: "Sie müssen mit Menschen zurechtkommen, die andere Ziele haben als sie selbst." Damit meint er nicht nur die Geflüchteten, sondern auch staatliche Stellen und Organisationen, die mit Ehrenamtlichen zusammenarbeiten. Beide handelten manchmal so, dass es für den Helfer in der Mitte nicht nachvollziehbar ist. Das Problem: "Sozialarbeiter werden auf diesen Zwiespalt in der Ausbildung vorbereitet. Ehrenamtliche werden davon überrascht", sagt El-Mafaalani.

Besonders augenfällig ist dieser Zwiespalt am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso). Dort halten Ehrenamtliche seit Monaten den Betrieb aufrecht, zerreiben sich zwischen der Not der wartenden Geflüchteten auf der einen und überforderten Behörden auf der anderen Seite. Es wachsen Wut und Unverständnis, vor allem auf die Politik.

Sozialarbeiter Fobian beobachtet bei vielen Ehrenamtlichen in dieser Situation Tendenzen zur Selbstausbeutung. "Da schreiben Helfer stolz auf Facebook, dass sie 24 Stunden arbeiten können, ohne müde zu werden." Die sozialen Medien machten es zusätzlich schwer, abzuschalten. "Es wird ja ständig was gepostet, die Ehrenamtler haben dadurch das Gefühl: Ich werde rund um die Uhr gebraucht." Dabei sei es natürlich in Ordnung, auch einmal zu sagen: Ich kann jetzt nicht mehr.

Flüchtlinge sind keine "armen Menschen"

Christine Wagemann gab trotz der Startschwierigkeiten nicht auf. Sie sprach mit Vertretern der Gemeinde, erzählte von ihrem Unbehagen mit der kosovarischen Familie. Ein neuer Auftrag kam: Wagemann wurde gebeten, mit einer Betreuerin drei syrische Paare vom Bahnhof abzuholen und in die ihnen zugedachte Wohnung zu bringen. Die Wohnung hatte drei große Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche, einen großen Flur, ein Badezimmer und eine extra Toilette. Gemütlich war sie nicht, erzählt Wagemann. "Es war nicht geputzt, außerdem kalt." Die Syrer kannten sich vorher nicht, waren erschöpft. Wagemann konnte daher nachvollziehen, dass sie anfangs nicht begeistert von ihrer Unterkunft waren und einer der Syrer sofort sagte: Hier bleiben wir nicht.

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Doch die Unwirtlichkeit war nicht der Grund für den Umzugswunsch. Seine Frau trage Kopftuch und könne nicht das Zimmer ohne Kopftuch verlassen, wenn fremde Männer in der Wohnung sind. Wagemann antwortete freundlich, aber bestimmt: "Wir freuen uns, dass ihr hier seid. Ob ihr Kopftuch tragt oder nicht, spielt für mich keine Rolle. Aber was anderes als die Wohnung haben wir nicht, damit müsst ihr zurechtkommen."

Sind das die befürchteten interkulturellen Missverständnisse? Wagemann will das nicht verallgemeinern: Die anderen beiden Paare hätten schließlich kein Problem mit der Wohnung, obwohl eine der anderen Frauen ebenfalls Kopftuch trage. Und schließlich habe sich auch das dritte Paar arrangiert. Menschen seien eben unterschiedlich, egal, ob sie aus Deutschland, dem Kosovo oder Syrien kommen.

Auch Clemens Fobian warnt davor, kulturelle Unterschiede für jeden Konflikt verantwortlich zu machen: "Es ist einfacher, so etwas durch die Kulturbrille zu sehen", sagt er. Oft gehe es aber um andere Dinge. Zum Beispiel die Art und Weise, wie die Deutschen Geflüchtete wahrnehmen: als arme, schutzbedürftige Menschen, die für jede Hilfe dankbar sein müssen. Das sagt auch Aladin El-Mafaalani. "Durch die Rahmenbedingungen, die wir setzen, kommen stattdessen fitte, durchaus vermögende und selbstbewusste Menschen." Schließlich müssen Schlepper bezahlt und eine gefährliche Reise organisiert werden.

Die Nähe ergibt sich

Christine Wagemann ergänzt einen weiteren Aspekt: "Flüchtlinge, die hier schon Fuß gefasst haben, schicken Bilder nach Hause. Daran orientieren sich die, die nachkommen." So war es etwa mit einem Syrer. Als Wagemann für die Wohnung nicht wie gewünscht einen größeren Kühlschrank samt Gefrierfach besorgen konnte, zeigte er ein Bild von einem Bekannten aus Düsseldorf, im Hintergrund eine neu ausgestattete Küche. "Stellen Sie sich vor: Sie sind auf der Flucht, es ist gefährlich, es geht mühsam voran - da klammern Sie sich natürlich an so ein Bild", sagt Wagemann. Sie ist sicher: Wenn Erwartungen entäuscht werden, ist es immer schwer.

Ansonsten läuft es aber für Wagemann gut mit den syrischen Paaren. "Sie sind unheimlich motiviert, zu bleiben, sich zu integrieren", sagt sie. Wagemann organisierte ihnen bald Deutschkurse, inzwischen begrüßen die Paare sie auf Deutsch. Die syrische Lehrerin, die Wagemann so mag, arbeitet in einer Schule als Mittlerin zwischen Lehrern und Flüchtlingskindern und verdient 1,05 Euro die Stunde. "Sie ist darauf sehr stolz - auch wenn es sehr wenig Geld ist." Dem Mann der Lehrerin hat Wagemann ein Praktikum bei einem Zahnarzt vermittelt. Das Paar hat eine eigene Wohnung, in einem Haus mit einem syrischen Vater und seinem zwölfjährigen Sohn. Diese betreut Wagemann nun gleich mit.

Und sie sei auch nicht die einzige: "Hier auf dem Land ist die Willkommenskultur großartig, es gibt ein ganzes Heer von Helfern." Ein friedliches Beisammensein zu gestalten, sei zwar eine gewaltige Aufgabe, aber auch eine Chance. "Die Welt ist so klein geworden, alles hängt zusammen", sagt Wagemann. "Die wichtigsten Fragen sind da doch für uns: Wie werden wir satt? Wie verhindern wir Krieg? Und nicht, ob wir uns kulturell unterscheiden." Sie lobt die Verhältnisse in den USA: "Dort ist es völlig normal, dass ganz unterschiedliche Menschen nebeneinander leben."

Eine Normalität, die Deutschland nach all den Jahren, die es jetzt schon Einwanderungsland ist, noch finden muss.

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