"Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte und das Wohl des Kindes und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen. Bei allem staatlichen Handeln, das Kinder betrifft, ist das Wohl des Kindes maßgeblich zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte betreffen, einen Anspruch auf Gehör und Berücksichtigung seiner Meinung entsprechend seinem Alter und seiner Reife."
Es geht um diese drei Sätze. Es geht um diesen einen Absatz, durch den das Grundgesetz geändert werden soll. Über eine Initiative im Bundesrat will die Regierung von Nordrhein-Westfalen an diesem Freitag darauf dringen, Kinderrechte im Grundgesetz festzuschreiben. Ihr Vorschlag zielt auf eine Neufassung von Artikel 6. Es ist ein Vorstoß von vielen; seit Jahren fordern die großen Kinderschutzverbände in Deutschland, die Rechte der Kleinsten der Gesellschaft verfassungsrechtlich zu verankern. Bisher verliefen sämtliche Initiativen im Sand - nun, zum Ende der Legislaturperiode, versucht NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, die Verfassungsänderung auf den Weg zu bringen. An ihrer Seite weiß sie unter anderen Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (beide SPD). Wenn der Gesetzesantrag am Freitag mehrheitlich beschlossen würde, könnte dies zeitlich gelingen.
Kritiker tun den Vorschlag als reine Symbolpolitik ab
Was ist so schwierig daran, den "Anspruch eines jeden Kindes auf Gehör und Berücksichtigung seiner Meinung" zu berücksichtigen? Kann da jemand ernsthaft etwas dagegen haben? Und bewirkt ein geänderter Absatz im Grundgesetz tatsächlich so viel?
Als reine Symbolpolitik tun Kritiker die Festschreibung dieser Kinderrechte ab - statt "Gesetzeslyrik" helfe eher eine Politik, die die bestehenden Rechte von Kindern konsequent umsetzt, finden sie. Die Befürworter verweisen hingegen auf die nachhaltige Wirkung, die eine explizite Nennung von Kinderrechten haben könnte: Ihre Rechte quer durch alle Rechtsgebiete würden gestärkt. Welche Kraft Grundrechten innewohnt, zeigt das Grundrecht auf Gleichberechtigung. Als dieses im Jahr 1994 in Artikel 3, Absatz 2, festgezurrt wurde, war auch schnell von Symbolpolitik die Rede. Als langfristige Folge kam jedoch eine umfassende Gleichstellungspolitik in Gang.
"Die Aufnahme von Kinderrechten im Grundgesetz wäre ein klares Signal für mehr Kinderfreundlichkeit in Deutschland. 25 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention ist die Zeit reif, die Rechte auf Förderung, Schutz und Beteiligung sowie den Vorrang des Kindeswohls bei allem staatlichen Handeln im Grundgesetz festzuschreiben", sagt Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes. Sein Verband hat sich mit dem Kinderschutzbund, Unicef Deutschland und der Deutschen Liga für das Kind zum Aktionsbündnis Kinderrechte zusammengeschlossen. Im Grundgesetz fehle bislang der Gedanke, dass Kinder "gleichberechtigte Mitglieder unserer Gemeinschaft", ja, "eigenständige Persönlichkeiten mit eigener Würde" seien.
Weil das recht schwammig klingt, hat das Kinderhilfswerk konkrete Fälle aus der Praxis gesucht, um aufzuzeigen, welche Auswirkungen die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz haben könnte: Jannis, 15 Jahre, ist nach der Trennung seiner Eltern unsicher und verwirrt. Er möchte gerne Unterstützung durch einen Beratungsdienst. Nach derzeitiger Rechtslage ist ein Anspruch auf Hilfen zur Erziehung nach den Bestimmungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ausschließlich aus der Perspektive der Eltern formuliert. Künftig könnte Jannis sich selbständig beraten lassen, ohne Zustimmung der Eltern.
Kinder würden miteinbezogen, wenn die Stadt einen Spielplatz umgestalten will
Shejla, elf Jahre, ärgert sich, weil die Stadtverwaltung ihren Lieblingsspielplatz umbaut und die Kinder, die dort regelmäßig spielen, nicht nach ihren Vorstellungen gefragt hat. Mit einem Kindergrundrecht, nach dem Kinder bei staatlichen Entscheidungen einen Anspruch auf Gehör haben, müssten Kinder zukünftig an solchen Entscheidungen beteiligt werden. Shejla würde miteinbezogen, bevor der Spielplatz umgebaut wird. Der Staat hätte hier die Bringschuld, müsste die Einsicht von Unterlagen auch Kindern nahebringen.
Laura, fünf Jahre, besucht eine Kindertagesstätte an einer stark befahrenen Durchgangsstraße. Bei der anstehenden Umgestaltung der Straße werden die Interessen der erwachsenen Verkehrsteilnehmer und Anwohner abgefragt, die der Kinder jedoch nicht. Gerade diese sind auf ihrem Weg zur Kita jedoch am meisten betroffen. Wenn zukünftig bei allem staatlichen Handeln das Kindeswohl "maßgeblich" zu berücksichtigen wäre, müssten in die Verwaltungsentscheidung auch die Interessen der Kinder miteinbezogen werden. Sie könnten etwa in ihrer Kita befragt werden.
Vincent, sechs Jahre, wohnt seit seinem dritten Lebensmonat bei Pflegeeltern. Nun stellen die leiblichen Eltern beim Familiengericht den Antrag, dass das Kind zu ihnen zurückkehren soll. Vincent hat Angst, er möchte bei seinen Pflegeeltern bleiben. Bisher stand das Kindesinteresse in solchen Verfahren deutlich hinter dem der leiblichen Eltern zurück. Bei einer Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz würde die Meinung des Kindes wesentlich stärker in die Rechtsgüterabwägung des Gerichtes einbezogen werden.
Klar ist allen Beteiligten, dass ein neuer Artikel 6 im Grundgesetz nicht sofort die Lebensbedingungen von Kindern in Deutschland verändern oder verbessern würde. Es wäre nur ein Schritt in einer langen Folge von politischen und juristischen Entscheidungen. Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, formuliert das so: "Es ist ein Startschuss, kein Endpunkt. Von heute auf morgen funktioniert das ebenso wenig wie die Gleichberechtigung der Frau. Da gibt es ja heute noch viel zu tun." Gerade die Situation von Kindern in Pflegefamilien ist Hilgers ein Anliegen - er betont: "Kinderrecht würde gegenüber missbrauchtem Elternrecht gestärkt."