Einmal weint der alte Mann, weint seiner Jugend nach; vielleicht ist er auch bloß ergriffen von der Geschichte. Er sieht "Immensee", den alten Film natürlich, mit Carl Raddatz und Kristina Söderbaum, und die Liebesgeschichte treibt dem SS-Obersturmbannführer die Tränen in die Augen.
Als der Film im Kino lief, 1943, hat der alte Mann, der damals jung war, mehrere tausend Menschen hinrichten lassen und nicht wenige selber umgebracht. Es war doch Krieg damals, Krieg gegen die Russen, die Juden, die Partisanen, und der Film so schön.
Alfred Filbert wurde wegen vieltausendfachen Mordes 1962 zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, doch schon elf Jahre später aus gesundheitlichen Gründen entlassen. So konnte er 1984 die Hauptrolle in Thomas Harlans Film "Wundkanal" spielen, Alfred Filbert, der so erfolgreiche Einsatzgruppenleiter, ein Opfer. Harlan las ihm aus dem Gerichtsurteil seine Untaten vor, er zwang Filbert in die Kamera zu schauen, er zeigte ihm "Immensee", den sein Vater mit seiner Stiefmutter in der Hauptrolle gedreht hatte, und dann spielte er ein besonders böses Spiel mit dem alten Mann.
Wenn die Filmgeschichte überhaupt etwas gilt, dann ist "Wundkanal" einer der grausamsten, einer der besten Filme aller Zeiten. Es ist, wie Heinrich von Kleist vor einem Bild Caspar David Friedrichs geschrieben hat, es ist, "als ob Einem die Augenlider weggeschnitten wären".
Der Sohn des Regisseurs Veit Harlan war Teil der Aristokratie des Dritten Reiches und er verriet seine Herkunft mit einer masochistischen Leidenschaft, um die ihn die Vergangenheitsbewältiger späterer Jahre nur beneiden können. Der junge Harlan folterte sich und andere, um endlich der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
Nicht nur vor seinem Vater, der dieses "Mordwerkzeug", den Film "Jud Süß", verfertigt hatte, lief er davon, sondern vor einem Deutschland, das so großzügig war und bei den eigenen Verbrechern so viel Gnade walten ließ.
Tätersöhne im Land der Opfer
Kaum war der Krieg aus, ging Harlan nach Frankreich und wäre am liebsten Franzose geworden, ein Anarchist in Gesellschaft von Gilles Deleuze und Armand Gatti. Und noch einen Freund fand er, den Bohemien Klaus Kinski, mit dem zusammen er Hebräisch lernte und nach Israel reiste, Tätersöhne im Land der Opfer. So sehr empörte ihn, dass sein einschlägig kompromittierter Vater weiter Filme machen durfte, dass er zwei Kinos anzündete, in denen sie liefen.
Dabei wollte der junge Mann ein Dichter sein wie seine Jahrgangskollegen Enzensberger, Rühmkorf und Lettau. Gottfried Benn hatte seine Gedichte freundlich gelobt, aber da war mehr, was zum Ausdruck drängte. Harlan schrieb ein Stück über den Aufstand im Warschauer Ghetto, "Ich selbst und kein Engel", das 1959 in Berlin aufgeführt wurde und die allseitige Verdrängung skandalisierte.
Vor einer Vorstellung zählte Harlan zwanzig nie verurteilte Kriegsverbrecher auf, nannte Franz Six und Ernst Achenbach mit Namen und Beruf, und handelte sich so viele Klagen ein, dass er wieder fortgehen musste. Der Landesverräter, als den ihn der ehemalige Kanzleramtsstaatssekretär Hans Globke anzeigte, begann in Warschau zu recherchieren, was in der Bundesrepublik niemand wissen wollte: Wer die Ausführenden des Völkermords waren und dass sie sich bürgerlichsten Wohlansehens erfreuten.
Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie Harlan zum weltweit operierenden Revolutionär wurde.
Ausstellung zur NS-Zeit:Selbstgleichschaltung
Spielzeug für den kleinen Nazi: Die Ausstellung "Hitler und die Deutschen" beleuchtet die Beziehung von Führer und Volk - doch über die Wirkung von Propaganda spricht sie nur unvollständig.
Jahre verbrachte Harlan in den Archiven des polnischen Innenministeriums und konnte Fritz Bauer, den Generalstaatsanwalt in Frankfurt, bei der Vorbereitung der Auschwitz-Prozesse mit dem Material versorgen, vor dem sich der Westen gern bewahrt hätte. Beim Anfassen dieser Geschichten, so erzählte es der Forscher später, "eröffnete sich ein ganzes Vaterland". Giangiacomo Feltrinelli, der kommunistische Verleger von "Doktor Schiwago", gab ihm Geld, wollte ihm die Arbeit an einer Dokumentation über das "Vierte Reich" finanzieren, doch irgendwann brach er ab. Es ging nicht mehr.
Hans Habe schrieb einen Roman über den Sohn, der seinem Vater entsagte, doch Thomas konnte sich nie ganz von Veit Harlan lösen. Als der im Sterben lag, eilte er ans Krankenbett, lauschte dem Vater zum ersten Mal eine Andeutung von Einsicht in seine Kitschwerke für Goebbels ab.
Die unheilbare Wunde
Der verlorene Sohn Thomas wurde lange vor Régis Debray ein weltweit operierender Revolutionär. Er schloss sich der italienischen Lotta Continua an, kämpfte gegen Augusto Pinochet in Chile und feierte in seinem Film "Torre Bela" die portugiesische Nelkenrevolution, mit der die faschistische Diktatur endlich abgelöst wurde. Haiti wollte er durch "Souvenance" (1991) ein Nationalepos geben. Deutschland, das ihm fremde deutsche Vaterland, durfte er nicht betreten, sie hätten ihn verhaftet.
"Wundkanal" entstand in Frankreich. Harlan nannte es eine "Hinrichtung für vier Stimmen", und dabei wurde nicht nur der alte Nazi gefoltert, mit dem Tribunal sollte auch an einen anderen SS-Mann erinnert werden, an den ehemaligen Untersturmführer Hanns Martin Schleyer, den die RAF 1977 entführte und peinlich zu befragen versuchte. Harlan verstärkte das "eigentliche Skandalon" jenes Jahres, das Friedrich Christian Delius formuliert hatte: "Nie zuvor hatte man in Deutschland einen SS-Mann leiden sehen."
Harlan litt und er ließ auch andere dafür leiden. Der Intellektuelle machte Körperkunst, das war der Skandal. Gegen Ende seines Lebens kehrte er doch zurück nach Deutschland, sterbenskrank, aber am Leben erhalten durch seine Arbeit. In rascher Folge entstanden seine Romane "Heldenfriedhof" und "Rosa", in denen er noch einmal die Rechnung mit dem Land seines Vaters aufmachte.
Am Samstag ist Thomas Harlan mit 81 Jahren in einem Lungensanatorium bei Berchtesgaden gestorben. Bis zuletzt arbeitete an einem Manuskript, das sich mit seiner unheilbaren Wunde beschäftigte: "Veit".