"Sibirisch für Anfänger" im Kino:Das Plumpsklo am Gartenzaun

Lesezeit: 3 min

Manche Konflikte enden hier mit dem Gewehr. Andere beginnen damit. (Foto: Cine Global)

Sieben Studien zum Thema Nachbarschaft und Solidarität: "Sibirisch für Anfänger" ist ein Episodenfilm über eine dörfliche russische Idylle mit einer fiesen Unterseite.

Von Fritz Göttler

Ein Mann geht mit grimmigem Gesicht aus dem Haus, verstört und erschöpft, er biegt um eine Ecke und humpelt die staubige leere Landstraße hinunter, die ins Weite führt, er hat den einen Fuß bandagiert und geht am Stock, er hat nur eine Unterhose und Schlappen an und gibt ein Bild des Jammers ab. Die Weite des Landes ist atemraubend in diesem Film, aber es ist keine, die Einsamkeit und Leere anklingen lässt, Verlassenheit oder Depression.

Der Film ist im Breitwandformat gedreht, man hat Raum und Zeit zum Beobachten. Die Häuser sind ordentlich und großzügig Seite an Seite platziert, kleine Birken stehen in den Gärten, an der Leine flattert die Wäsche, die Topografie einer wunderbaren harmonischen Nachbarschaft. Ein Dorf in der Region Sacha im Nordosten Russlands, die Leute sprechen Jakutisch. Die Einrichtung der Häuser ist schwerfällig gediegen, es gibt viel Raum und große Fenster. Eine Idylle: draußen ein naturgegebenes Nirgendwo, drinnen bürgerliche Lebensart.

Sieben Episoden bringt der Film "Yt" - der deutsche Titel ist eher ungelenk - zusammen, sieben Studien in Sachen Nachbarschaft und Solidarität. Manche sind exemplarisch verdichtet, nahezu abstrakt, oft werden Konflikte mit einer Flinte geregelt - oder ausgelöst. Es gibt auch Attraktionen, einmal ist von einer Sonnenfinsternis die Rede, dafür muss man sich getönte Gläser besorgen. Ein home movie, bei dem ein tödliches Ende nicht ausgeschlossen werden kann.

Die Wirklichkeit wehrt sich gegen jede Tendenz zur Parabel

Die dörfliche Gesellschaft funktioniert nach den einfachen Gesetzen von Aktion und Reaktion. Szenen und Begegnungen entwickeln sich langsam, nach dem immer gleichen Rhythmus. Ein Mann tritt aus seinem Haus, begibt sich zum Zaun und fängt ein Gespräch mit dem Nachbarn an, der gerade auf seinem Grundstück einen Graben aushebt, es gibt eine Sache zu regeln, die seine Frau nicht hingekriegt hat. Er zündet sich eine Zigarette an, dann wird debattiert. Was machst du da... Ich hebe ein neues Plumpsklo aus... Aber du hast doch schon eins dort hinten... Das ist voll... Aber das ist nicht gut, dass du das neue Klo direkt neben unserem Gemüsebeet machst... Gas Gespräch endet ohne eine Einigung. Es bleibt Handlungsbedarf. Woraus dann wiederum eine Handlungskonsequenz entsteht.

Die Covid-Pandemie liegt schattenhaft über dem Film. Es war 2020, erzählt Regisseur Stepan Burnashev, "da wurde in Jakutsk ein Lockdown angekündigt. Ich fuhr mit meiner Familie in mein Heimatdorf Amgu, um ein Drehbuch zu schreiben. Ich dachte, es würde zwei Wochen dauern, aber am Ende waren es zwei Monate. Ich sprach mit meinem Kollegen Dmitry Davydov (er lebt in derselben Siedlung), und das Projekt war geboren. Ich hatte eine Episode fertig, und jeder von uns schrieb rasch drei weitere. Wir einigten uns mit den Akteuren, die meisten Menschen vor Ort, schon mit Filmerfahrung, suchten locations und drehten alles in zwei Wochen. Mit einem elenden Budget, zweihunderttausend Rubel."

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Ein junger Mann hat sich eine Braut besorgt, aber plötzlich fuchtelt er mit einem Gewehr herum unter den Menschen, die zum Gratulieren da sind - das Gewehr hält er liebevoller im Arm als die Braut. Der Dorfälteste kommt und versucht, die brisante Lage zu entschärfen. Dazu muss er sich eifrig Trinksprüche ausdenken und mehr als eine Flasche Schnaps leeren.

Jede Idylle hat eine fiese Unterseite. Aber die Wirklichkeit wehrt sich gegen jede Tendenz zur Parabel. Die Figuren sind nicht typisch, sondern bleiben individuell. Sie nehmen es hin, dass man sie lächerlich finden könnte. Einer - der mit dem lädierten Fuß, der nicht heilen will - hat das Haus der Großmutter verkauft für einen tollen Betrag, aber dann auf dem Rückweg - er war natürlich betrunken - hat er die Tasche mit dem Geld verloren. Und der Nachbar hat sich plötzlich einen sehr teuren ausländischen Wagen gekauft... Handlungsbedarf. Handlungskonsequenz.

Yt , 2021 - Regie: Stepan Burnashev, Dmitrii Davydov. Kamera: Nikolai Petrov. Schnitt: Stepan Burnahev. Mit: Innokenty Lukovtsev, Sergei Balanov. Cine Global, 102 Minuten. Kinostart: 15.12.2022.

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