Viele kleine stimmige Beobachtungen zeigen die Armut der Menschen hier, und wie sie denken und fühlen: Wenn etwa Bradys Vater dessen Lieblingspferd Gus verkauft, weil der Familie nach dem Unfall das Geld ausgeht, wäre das in Hollywood ein Riesendrama. Hier genügt ein Satz des Vaters: "Gus ist ein Mitglied dieser Familie, jetzt muss er seinen Teil beitragen."
Zhao, Jahrgang 1982, wurde in Peking geboren, sie besuchte ein Internat in England, studierte Politikwissenschaft in Massachusetts und Film in New York. Die Distanz, aus der sie sich - als Frau und gebürtigen Asiatin - ihrem Stoff und Milieu annähert, hat eine frappierende Offenheit zur Folge: Es gibt viele der üblichen Genreelemente und Westernmotive, aber sie wirken hier ganz frisch und berührend wahrhaftig. Dabei ist "The Rider" dennoch ein lupenreiner Western, in dem es um die Selbsterfahrung des Helden an der Grenze, der frontier , geht. Nur, dass hier nicht die Besiedlungsgrenze gemeint ist - die frontier verläuft in Bradys Kopf.
Nach ihrem viel beachteten Debüt "Songs My Brother Taught Me", über ein Lakota-Geschwisterpaar, ist "The Rider", der in Cannes mit dem Art Cinema Award und in München mit dem Werner-Herzog-Filmpreis ausgezeichnet wurde, ein weiterer Beleg für Chloé Zhaos Talent.
Der Cowboy im Rollstuhl galoppiert in Gedanken
Von dieser Regisseurin ist noch einiges zu erwarten. Mit Brady Jandreau in der Hauptrolle hat sie allerdings auch einen Glücksgriff getan: Überzeugend verkörpert er die Trauer, die Leere, Zerrissenheit und Wut des Cowboys, der nicht mehr reiten darf. Der - als versehrter, beschädigter Mann, nur so ist der Zugang möglich - dem Zuschauer eine Welt erschließt, in der sich Männer vor allem über ihre Arbeit und ihre Spiele auf dem Pferderücken definieren, eine Welt mit teilweise vormodernen Werten. Wenn Brady ein Rodeo besucht, tauchen Zhao und ihr Kameramann die Bilder in ein warmes Nachtlicht. Ihre Impressionen montieren sie zu einer melancholischen Hommage an dieses Milieu mit seinen Kautabak kauenden Reitern, die auf wilden Mustangs miteinander konkurrieren.
Dass das Ganz so wahrhaftig wirkt, liegt auch daran, dass an Jandreaus Seite die Mitglieder seiner echten Familie und seine Freunde agieren: seine behinderte kleine Schwester Lilly (Lilly Jandreau), die vermutlich Autistin ist und zu der Brady eine besonders innige Beziehung hat; Bradys Vater (Tim Jandreau), ein wortkarger, desillusionierter Mann, der keinen Widerspruch in der Familie duldet. Und Bradys auch in Wirklichkeit bester Kumpel Lane Scott (Lane Scott), ein ehemaliger Rodeo-Champion, der nach einem Unfall schwerstbehindert ist und nur über Zeichensprache kommunizieren kann. Für Brady ist sein Schicksal eine Warnung davor, was passieren kann, wenn er noch einmal ein Rodeo reitet.
Zhao hat ihren Darstellern ein Drehbuch geschrieben, viele Dialoge wurden dann aber doch improvisiert oder angepasst. Wunderbare Wortwechsel sind so entstanden, etwa wenn Brady Lilly verspricht, für sie zu sorgen, und die behinderte Lilly selbstbewusst verkündet: "Ich sorge auch für dich."
Eine Hommage an den Wilden Westen - und ein Abgesang
Was auf einer emotionalen Ebene übrigens unbedingt stimmt. Großartig und tief berührend auch, wie Brady mit seinem Freund im Pflegeheim einfachste Greifbewegungen trainiert, indem er ihn seine beiden Hände wie einen Zügel halten und ein imaginäres Pferd dirigieren lässt: "Du sitzt auf dem guten, alten Gus und galoppierst. Spürst du den Wind in deinem Gesicht?"
"The Rider" ist eine Hommage an den Wilden Westen und ein Abgesang. Die Freiheit, die er versprochen hatte, findet sich jetzt nur noch in der Fantasie.
The Rider, USA 2017 - Regie, Buch: Chloé Zhao. Kamera: Joshua James Richards. Mit: Brady Jandreau, Tim Jandreau, Lilly Jandreau, Cat Clifford, Terri Dawn Pourier, Lane Scott. Weltkino, 104 Minuten.