Fotografie:Das Gesicht ohne Mimik

Lesezeit: 2 min

  • Die Hamburger Deichtorhallen zeigen Bilder des langjährigen Magazinfotografen für Eltern und Stern, Walter Schels.
  • In der Ausstellung mit dem schlichen Titel "Leben" sind Aufnahmen von Neugeborenen, Prominenten und Transmenschen zu sehen.
  • Schels versucht in seinen Bildern immer, das unverstellte "Originalgesicht" der Porträtierten zu zeigen. Die Neutralität der Gesichter entwicklet eine irritierende Kraft.

Von Till Briegleb

Der Fotograf Walter Schels, 83, ist auf der Suche nach dem "mimikfreien Originalgesicht". Deswegen stellt er Lebewesen vor seine Kamera, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht wirklich verstellen können. Unter anderem porträtiert er Tiere. Auch Menschen sind Motive, Neugeborene zum Beispiel und Tote. Bei Leuten, die sich ihrer selbst gewahr sind, wartet er. Erst wenn die Einmischung der verinnerlichten sozialen Kontrolle, ein bestimmtes Eigenbild mit Mimik herzustellen, möglichst schwach geworden ist, drückt Walter Schels auf den Auslöser.

Gerade bei Personen, denen die Zurschaustellung ihrer Identität wichtig ist, mag es lange dauern, bis die Wunschmaske sich auflöst für das "Originalgesicht". Aber Schels hat seit mehr als 50 Jahren die Geduld, manchmal tagelang zu warten. Bei Prominenten wie Angela Merkel, Helmut Schmidt und Campino, die wenig Zeit haben, ließ er sich etwas anderes einfallen: Er ließ sie ihre Hände in den Vordergrund halten, wodurch sich die gewohnte Posenmimik sofort auflöst und verzieht.

Fotografien von Walter Schels
:Ganz nah dran

Der Fotograf Walter Schels misstraut Schauspiel und Verstellung und will das "mimikfreie Originalgesicht" bei den Porträtierten erreichen. Auch, wenn das bedeutet, dass er dafür manchmal lange warten muss.

Das Resultat dieser Ausdauer, das nun in einer konzentrierten Auswahl in den Hamburger Deichtorhallen mit dem schlichten Titel "Leben" zu sehen ist, sind Aufnahmen mit der Wucht des Unmittelbaren. Das liegt sicherlich auch an den vielen existenziellen Themen, die Schels verfolgt. Der langjährige Magazinfotograf für Eltern und den Stern zeigte in seinen ersten berühmt gewordenen Porträts Früh- und Totgeburten. In seiner neuesten Serie begleitet er Jungen und Mädchen, die sich ein anderes Geschlecht wünschten, bis zur Zeit nach den letzten Operationen. Und er zeigt Erwachsene und Kinder mit unheilbaren Krankheiten in Doppelporträts vor dem Sterben und nach dem Tod, Titel: "Noch mal Leben".

Schock ist zwar einkalkuliert - aber nicht die vordringliche Motivation

Schels geht extrem nah ran, oft näher, als es ein Mensch physisch zulassen würde. Und er benützt grundsätzlich die dramatische Verstärkung der Dokumentarfotografie, mit der sich Intensität laut stellen lässt: Walter Schels arbeitet nur in Schwarz-Weiß. Außerdem sind seine Gesichter (und manchmal auch Hände, ein Schimpanse oder vertrocknete Blumen) bildfüllend, vor neutralem Hintergrund und maßstäblich teilweise deutlich größer als in Natur. Zusammen ergeben diese Faktoren eine Fotografie, die einerseits eine sehr intime und ablenkungsfreie Konzentration auf das Wesentliche ermöglicht, dadurch aber das Erschütternde von Schicksalen besonders präsent werden lässt. Manchmal so präsent, dass der Betrachter sich unangenehm überwältigt fühlen mag, etwa bei den toten Babygesichtern oder auch den anderen zu früh Verstorbenen.

Doch Schock scheint hier nicht die vordringliche Motivation zu sein, auch wenn diese Reaktion natürlich einkalkuliert ist. Schels' Suche nach der scheinbaren Neutralität der Gesichter in Extremsituationen entwickelt seine irritierende Kraft bewusst dadurch, dass man oft zunächst nicht weiß, was man eigentlich sieht. Der Blick in scheinbar teilnahmslose Gesichter von Mädchen und Jungen lädt sich schlagartig mit Dramatik und Irritation auf durch die Information, dass sie alle eine Geschlechtsumwandlung hinter sich haben. Auch die als neutrale "Passfotos" arrangierten Porträts von Blinden oder die extrem nah herangezoomten Gesichter der Künstler einer Behinderteneinrichtung erzwingen das völlige Einlassen, das Menschen ohne körperliche Einschränkungen mit Fremdheit provozieren mag.

Der Künstler mit dem starken Misstrauen gegen Schauspiel und Verstellung, gegen soziale Maskierung und gewinnende Pose öffnet mit dieser Art der Fotografie Türen der Empathie. Das mag manchmal unangenehm sein für den Betrachter, denn diese Bilder berühren Ängste. Aber oft hat so ein neugeborenes Baby ein komisches Originalgesicht und erinnert daran, dass Humor, freudige Erlebnisse und Sehnsucht in der existenziellen Spanne zwischen Geburt und Tod auch ihren Platz haben. Leben eben.

Walter Schels. Leben. Deichtorhallen, Hamburg. Bis 3. Oktober.

© SZ vom 21.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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