"Verlorene Illusionen" im Kino:Aufstieg und Fall eines Schreiberlings

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Jede Wahrheit ist käuflich in den Pariser Salons: Filmszene mit Cécile de France und Benjamin Voisin. (Foto: Cinemien Verleih)

Nahm die Pariser Welt um 1820 die Diskurshölle der Gegenwart schon vorweg? In der Honoré de Balzac-Verfilmung "Verlorene Illusionen" sieht es schwer danach aus.

Von Philipp Stadelmaier

Der Beruf des Kritikers kann manchmal so einfach sein. Vor allem, wenn es darum geht, Autoren und ihre Werke zu vernichten. Denn der Kritiker weiß, dass er alles in sein Gegenteil verkehren kann. Ist er von einem Werk berührt, schreibt er, es sei sentimental. Ist das Buch in einem klassischen, einfachen Stil geschrieben, ist es eben konventionell. Der Kritiker findet den Text witzig? Der Text ist albern! Unvorhersehbarkeit wird in Konfusion umgetauft, eine klare Struktur in Vorhersehbarkeit, und so weiter.

Diese Lektion lernt Lucien Chardon (oder Lucien de Rubempré, wie er sich auch nennt) ziemlich schnell. Der gefürchtetste Kritiker von Paris ist die Hauptfigur der "Verlorenen Illusionen", des berühmten Romans von Honoré de Balzac, den Xavier Giannoli jetzt neu verfilmt hat. Wir sind im Frankreich der Restaurationszeit, in der Ära vor der Julirevolution von 1830. Lucien (Benjamin Voisin), ein junger Drucker und Dichter aus der Provinz, folgt seiner adeligen Geliebten in die Hauptstadt, auf der Suche nach Poesie, Schönheit und Liebe.

Doch seine Ideale stellen sich als die schon bald verlorenen Illusionen des Titels heraus. Als Literat kann Lucien nicht Fuß fassen, und auch sonst fällt er in Ungnade: Die Geliebte verlässt ihn, seine adeligen Protektoren lassen ihn fallen. Der junge Mann landet in der Gosse und als Kellner in einem schäbigen Studentenlokal. Dort macht Lucien die Bekanntschaft des Chefredakteurs eines liberalen Blattes, der ihm seine hehren literarischen Ambitionen austreiben und ihn zum Boulevardjournalismus bekehren wird - für die schreibende Zunft der damaligen Zeit eine wahre Goldgrube.

Seine Karriere beginnt Lucien als Theaterkritiker. In seinem ersten Text geht es nicht um die Inszenierung, die niemanden interessiert, sondern um die roten Strümpfe der Schauspielerin: eine unverhohlene Erklärung, mit ihr schlafen zu wollen. Der Plan geht auf, und zusätzlich zur Strumpfträgerin bekommt Lucien eine Stelle bei der Zeitung. Hier hetzt er fortan mit spitzer Feder gegen seine Feinde und dichtet mit blumiger Feder für seine Freunde.

Ohne Shitstorm verkaufte sich auch damals nichts

Wer nun aber Freund und Feind ist, darüber entscheidet allein das Geld. Denn in dieser Welt, in der alles käuflich ist, werden Zeitungen und Journalisten von denen bezahlt, über die sie schreiben. Buchverleger und Autoren, Theaterintendanten und Schauspielerinnen, Oligarchen und Bankiers legen viel Bares auf den Tisch für Gefälligkeitstexte und positive Kritiken, ebenso wie für Verrisse über ihre Konkurrenz - und manchmal sogar über sich selbst: Ohne Kontroverse, ohne Shitstorm, verkauft sich nichts, keine Theateraufführungen und keine Bücher. Falschmeldungen und Diffamierungen gehören zum Tagesgeschäft dieser offen korrupte Meinungspresse, die den Prinzipien der Wahrheit konsequent abgeschworen hat.

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Lucien wird reich, und der Champagner fließt in Strömen, bis es wieder steil bergab geht. Bis dahin imitiert der Film in seinen ausschweifenden Momenten die frenetische Energie von Martin Scorseses "The Wolf of Wall Street", und in seinen besinnlichen Momenten das Kerzenlicht aus Kubricks "Barry Lyndon". Gérard Depardieu poltert als schwergewichtiger Verleger durch die Gegend, der frankokanadische Regiestar Xavier Dolan leiht seine feinen Gesichtszüge einem royalistischen Schriftsteller. Das Ganze ist kurzweilig und nett anzuschauen. Und ja, diese Pariser Pressewelt um 1820, mit ihrem Kult der Schlagwörter, Provokationen und Meinungen erinnert an diese Diskurshölle namens Twitter, auch schon vor der Übernahme durch Elon Musk. Die Aufmerksamkeitsökonomie des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich kaum von unserer heutigen.

Dennoch bleibt der Film der Vergangenheit verhaftet. Zum einen, weil die hier beschworenen Zeiten, in denen Printauflagen wuchsen und das Geschäft mit Werbeanzeigen florierte, für Zeitungen im Jahr 2022 weit zurückliegen. Außerdem brauchen wir keinen Kostümfilm mehr, um unserer Medienwelt den Spiegel vorzuhalten. Was Twitter und Konsorten anrichten können, darüber machen wir uns längst keine Illusionen mehr.

Illusions perdues , Frankreich 2021. - Regie: Xavier Giannoli. Buch: Jacques Fieschi, Giannoli. Kamera: Christophe Beaucarne. Mit Benjamin Voisin, Cécile de France, Gérard Depardieu, Xavier Dolan. Cinemien, 150 Min. Kinostart: 22. 12. 2022.

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