Türkische Chronik XXXV:Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei

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Die von Staatsgründer Atatürk entworfene Verwaltungsstruktur wurde von Erdoğan demontiert - der Alten Republik versetzte der Wahlsonntag den finalen Schlag. (Foto: AP)

Erdoğans Wahlsieg bedeutet das Ende der von Atatürk geschaffenen Türkei. Und die Enttäuschung der Intellektuellen ist immens.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Es ist vorbei. Ein durch Recep Tayyip Erdoğans polarisierende Politik geteiltes Volk hat abgestimmt, es hat jedoch dem Präsidenten nur einen marginalen Stimmenvorsprung beschert. Diejenigen in der Opposition, die den Wahlausgang infrage stellten, werden nun schwer enttäuscht sein.

Die bittere Wahrheit lautet, dass eine Mehrheit, wenn auch nur eine knappe, der türkischen Wähler Erdoğans Gegencoup zugestimmt hat und er nun seinen Traum verwirklichen kann. Den Traum, sein Land endlich unkontrolliert regieren und alle staatlichen Institutionen, die Wahlkommission eingeschlossen, unter seine Kontrolle bringen zu können. Zudem beschert ihm der Wahlausgang die Möglichkeit, alle sozialen Widerstände und jede Ablehnung mit einem wenn nötig endlos ausgeweiteten Ausnahmezustand zu ersticken. Egal, wie sehr sich die Opposition um eine Neuauszählung der Stimmen bemühen und eine Korrektur des Wahlausgangs anstreben mag, Erdoğan könnte jetzt den Posten des exekutiven Herrschers bis 2029 bekleiden.

Aufgrund dieses Wahlausgangs ist es nun mit der Türkei, wie wir sie kennen, vorbei. Die Verwaltungsstruktur, von Staatsgründer Kemal Atatürk entworfen, wurde nach wackeligen Experimenten mit dem Militär und einer säkularen Elite von Erdoğan demontiert. Seine reformorientierten Parteikollegen räumte er aus dem Weg. Der Zusammenbruch des Rechtssystems vollzog sich seit den Gezi-Protesten in Zeitlupe. Die Gewaltenteilung wurde aufgehoben, und seit 2014 wurden unabhängige Medien sukzessive ausgeschaltet. All das ließ nicht viel übrig von der Alten Republik - und dieser Wahlsonntag versetzte ihr den finalen Schlag.

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Im Rückblick lagen diejenigen richtig, die in einem nicht unproblematischen Vergleich die auffallenden Ähnlichkeiten zu den Ereignissen in Deutschland von 1933/34 betonten: der Reichstagsbrand, die Nacht der Langen Messer, das Referendum über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs. Kein Wunder, dass diejenigen, die angesichts dieser Vergleiche zunächst bloß mit den Schultern zuckten, nun in einen Schockzustand verfallen sind. Besonders, als sie die Siegesrede Erdoğans am Sonntagabend hörten. Mit scharfer Rhetorik versprach da der türkische Präsident einer ekstatischen Menge, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe nun höchste Priorität habe.

In anderer Hinsicht hat der Wahlausgang von Sonntag ein Kapitel abgeschlossen, in dem sich die ländliche und sehr fromme Peripherie der türkischen Gesellschaft am Zentrum der Alten Republik rächt. Einige führende AKP-Politiker bezeichneten das als "Stille Revolution".

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Die neuen Opfer sind nun die Andersdenkenden, diejenigen am linken und liberalen Rand. Es ist der widerstandsfähige Teil der türkischen Elite, der für seine Tradition und sein Unabhängigkeitsdenken bekannt ist. Es war schmerzhaft für mich, die enorme Enttäuschung der türkischen Intellektuellen mitzuerleben. Aus der Tradition heraus nachgiebig und zum Großteil politisch links bis liberal, äußerten sie sich am Telefon oder in sozialen Netzwerken in quälender Verzweiflung - und mit einem deutlichen Gefühl der Niederlage.

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Sie alle, Akademiker, Medienvertreter oder NGO-Mitglieder, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, hatten auf eine demokratische Veränderung unter der AKP gehofft. Viele zollten der Partei Respekt dafür, mit Gewaltenteilung schon früh den Teufelskreis einer von Ungerechtigkeiten geprägten Republik durchbrechen zu wollen. Sie wollten an Menschenrechte, Freiheit und das Ende des jahrzehntelangen Kurdenkonflikts glauben. Aber Erdoğans Umkehrung der Demokratisierung, die mit einer Krisenpolitik einherging, die seine Verbündeten misshandelte und vernachlässigte, ließ sie alle mit dem Gefühl zurück, betrogen worden zu sein. Endgültig erreichte sie diese Erkenntnis, als der Militärputsch im vergangenen Sommer zu einer enormen politischen Säuberung und Verhaftungswelle führte. Als Nächstes dürfte jetzt ein Exodus ausgezeichneter Arbeitskräfte folgen.

Journalisten wie ich, im Ausland oder zu Hause, sehen sich nach dem Referendum noch weiter gefordert. Unter der institutionalisierten Ein-Mann-Regelung wird die Aufdeckung von Korruption ein waghalsiges Unterfangen. Die strengen Maßnahmen gegen kritischen Journalismus werden verschärft werden, bis der Restwiderstand der Medien verschwindet. Der Mediensektor wird sich dem zentralasiatischer Republiken angleichen, wo sie nur als Sprachrohre der Machthabenden geduldet sind. Unter diesen Umständen wird der unabhängige Journalismus jenseits der türkischen Grenzen stattfinden. Meine Kollegen haben erkannt, dass ihr Traum eines ehrwürdigen Vierten Staates nichts anderes als eine Illusion war.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Carolin Gasteiger.

© SZ vom 18.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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