Theater in Österreich:Verdrängte Erinnerungen

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Tom Stoppards Geschichtsdrama "Leopoldstadt" über eine jüdische Großfamilie - nun im Wiener Theater in der Josefstadt.

Von Cathrin Kahlweit

Tom Stoppard war knapp fünfzig Jahre alt, als er erfuhr, dass er aus einer jüdischen Familie stammt und fast seine gesamte Ursprungsfamilie im Holocaust verloren hat. Seine Mutter war den Nazis entkommen und hatte in zweiter Ehe einen Briten geheiratet. Stoppard, mittlerweile 84, wurde zu einem very british boy - und zu einem der bekanntesten Autoren Großbritanniens. Er erhielt einen Oscar für das Drehbuch von "Shakespeare in Love" und war Ko-Autor von "Indiana Jones". Sein "Coming Out", wie es die New York Review of Books nannte, hatte Stoppard aber erst mit dem Stück "Leopoldstadt". Es wurde 2020 im Londoner Westend uraufgeführt und war ein großer Erfolg. Nun wagte sich das Theater in der Josefstadt in Wien mit einer von Daniel Kehlmann übersetzten Fassung an die deutschsprachige Erstaufführung.

Und damit beginnt auch schon das Problem. In London funktioniert das Stück, das, etwas schematisch und volkshochschulhaft, die Geschichte einer assimilierten jüdischen Familie in Wien zwischen 1899 und 1955 erzählt. Das britische Publikum kennt sich im Zweifel in der Geschichte vom Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus aus, aber weniger mit den k. u. k. Zeiten und in der Ersten Republik. Es nahm die berührend erzählte Geschichtsstunde daher gefesselt und lernbegierig auf, zumal die Uraufführung im Februar 2020 in eine Zeit fiel, in welcher der Kampf gegen Nazideutschland, der britische Kriegseintritt und die Legende Winston Churchill gerade erst ausgiebig gefeiert worden waren.

Der Titel verweist auf das jüdische Ghetto in der Leopoldstadt im zweiten Wiener Bezirk

Stoppard, 1937 als Tomáš Straussler in Zlín im heutigen Tschechien geboren, hatte seine Geschichte auf die Großfamilie des Unternehmers Hermann Merz und ihre zahlreichen Verwandten übertragen, deren Schicksale er grob nachzeichnet. Das Figurentableau ist bunt und betont repräsentativ: Da ist der getaufte Jude Hermann Merz, der sich als vollwertiges Mitglied der besseren Gesellschaft wähnt und doch schmerzlich erfahren muss, dass er im Konfliktfall immer ein Jude bleiben wird. Da sind seine an den jüdischen Ritualen festhaltende Mutter, ein Zionist, eine Sozialistin, ein Weltkriegssoldat, eine Verwandte aus Galizien, wo die Vorfahren herkommen, Kinder, Enkel, die gemeinsam sowohl Weihnachten wie eine Beschneidung feiern.

Fast alle sind sie Österreicher, Patrioten, Aufsteiger, Künstler, Mäzene, Akademiker in einer Welt, die nur scheinbar tolerant ist. Sie werden entrechtet und enteignet, ins Ghetto umgesiedelt, das in der - dem Stück seinen Namen gebenden - Leopoldstadt im zweiten Wiener Bezirk lag, und schließlich in ein Euthanasieprogramm, nach Dachau, nach Auschwitz verschleppt oder in den Selbstmord getrieben. Am Ende stehen drei Überlebende auf der Bühne. Einer ist nach Wien zurückgekehrt, eine Tante ist aus Brooklyn zu Besuch. Der dritte war als Junge 1938 Zeuge, wie ein NS-Mann die Merz-Wohnung requirierte und den Vertrag für die "Arisierung" der Firma gleich mitbrachte.

Der Junge von damals war kurz darauf mit seinem Stiefvater nach London emigriert, er ist damit am ehesten ein Alter Ego von Tom Stoppard. "Du lebst, als hättest du keine Geschichte", wirft ihm sein Wiener Cousin vor, "als würdest du keinen Schatten werfen." Stoppard wollte diesen Schatten werfen, er wollte, wie er sagte, "Erinnerung und falsche Erinnerung" zusammenbringen.

Kaiser-, Nazi-, Nachkriegszeit: In dem Stück spiegelt sich auch die Geschichte Österreichs

Erinnerung und falsche Erinnerung - das sind in Österreich, das sich jahrzehntelang in der Opferrolle inszenierte und die Täterrolle negierte, durchaus lohnenswerte Topoi. Aber Stoppards Tour d'Horizon ist mit ihren Stereotypen keine Grundlage für einen nachträglichen oder nachdenklichen Diskurs. Sie führt von der Kaiserzeit, dem Antisemitismus eines Karl Lueger und den Debatten über Herzls Judenstaat über den Ersten Weltkrieg, das rote Wien, den Bürgerkrieg 1934 und die Keller-Nazis bis zum "Anschluss" und zur Reichspogromnacht - alles verhandelt, erzählt, beschrieben und diskutiert in den Salons der Famile Merz. Der Lärm marschierender Nazis, rollender Panzer - er sickert nur durch Fenster und Türen wie eine irritierend irreale Bedrohung. Das Ende ist bekannt. "Wien ohne Juden ist", wie es ein Überlebender in einem etwas seltsamen Vergleich formuliert, "wie ein eingemottetes Faschingskostüm."

Gegen die über drei Stunden zunehmende Übermüdung im Zuschauerraum, wo hernach trotzdem sehr freundlich applaudiert wurde, hilft es auch nicht, dass sich Regisseur Janusz Kica und die Ausstatterin Karin Fritz auf eine gut gemachte, aber doch sehr konventionelle, brave Inszenierung zurückziehen. Die Josefstadt stellt ein großes, gut eingespieltes Ensemble auf die Bühne, Theaterdirektor Herbert Föttinger und die durch die ORF-Serie "Vorstadtweiber" auch in Deutschland populäre Maria Köstlinger sind, wie so oft, die Fixpunkte einer routiniert gespielten, aber zu wenig lakonischen und allzu demonstrativen Geschichtsstunde. "Verdrängte Erinnerungen in Österreich - das kenne ich", sagt Sona MacDonald, die in der Schlussszene die nach New York emigrierte Psychoanalytikerin spielt. Diese Erinnerungen hätten subtiler und wirkungsmächtiger freigelegt werden können.

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