Pop bei Netflix und Apple TV+:"Und dann: Bäm!"

Lesezeit: 6 Min.

Zwei Serien zerlegen die Popmusik sehr akribisch und virtuos in ihre Bausteine.

Von Jakob Biazza

Der Moment, der den Sänger T-Pain sanft in eine mehrjährige Depression geschoben hat, lässt sich im Rückblick sehr genau bestimmen. Er passt ganz luftig in eine dieser Stichwort-Rumpeleien, mit denen Journalistinnen und Regisseure ihren Protagonisten anstelle von anständigen Fragen kommen, wenn es um alte Anekdoten geht, die jetzt eben noch mal ausgebreitet werden sollen. In dieser Doku also: "Ich habe eine Geschichte über dich und Usher in einem Flugzeug gehört."

Beim Wort "Usher" scheint es so zu sein, als füllten sich T-Pains Augenlider mit Sand, so müde wirkt er mit einem Mal. Dann seufzt er, schaut zur Seite und versucht sich an einem Lächeln, das sich Menschen manchmal ins Gesicht stemmen, kurz bevor Tränen fließen.

Die Geschichte geht so: T-Pain sitzt 2013 auf dem Weg zu den BET Awards in einem Flieger in der ersten Klasse, und er döst, als ihn eine der Stewardessen mit der Nachricht weckt, Usher wolle ihn im hinteren Teil des Flugzeugs sprechen. Dort tauscht man erst ein paar Belanglosigkeit aus, bis Usher - acht Grammys, gut 80 Millionen verkaufte Alben, angeblich ein enger Freund, im Ton nun aber mit großem Klassensprecher-Ernst - zu einer Verkündigung anhebt: "Man, you kind of fucked up music for real singers." Junge, du hast die Musik für echte Sänger ruiniert.

Gnadenlos böser, herrlich fluffiger Pop: Kleinste Gimmicks wie Autotune können dich riesengroß machen - und im nächsten Moment zerstören.

Ist natürlich keine schlechte Idee, eine Erzählung über die Entzauberung der Musik mit einer ihrer größten Lügen zu beginnen. Deshalb hatten diese Idee wohl auch gleich zwei Serienmacher. Sowohl "This Is Pop" (Netflix), als auch "Watch The Sound" (Apple TV+) widmen unter anderem dem Stimmeffekt Autotune, der T-Pain berühmt und verhasst gemacht hat, jeweils eine Folge. Wer den Effekt noch nie gehört hat: In der extremsten Form stellt man sich am besten einen Menschen vor, der eine exorbitant fette Kröte im Hals stecken hat, und trotzdem energisch und trotzig den Mond anheult. Die beiden Serien schauen darauf nun allerdings wunderbar unterschiedlich. "This Is Pop" ist, wie bei der Szene mit T-Pain, meistens sehr nah am Menschen. Apple bleibt eher technisch: Welche Geräte erzeugen was/warum/wie? Was ist dann physikalisch los? Und was passiert eigentlich, wenn ich hier drehe?

Vor allem Letzteres könnte wirklich enorm speziell werden, hätten die Produzenten nicht eine zweite, ebenfalls famose Idee gehabt: Mark Ronson.

Die menschliche Stimme sei das mächtigste Instrument, seit Musik aufgenommen wird, sagt Mark Ronson. Er meint damit allerdings nicht unbedingt seine eigene. (Foto: Apple TV+)

Ronson - für alle, die weder Internet noch Radio besitzen und die dem Fernsehen abgesehen vom Bayerischen Rundfunk misstrauen - ist DJ, Songwriter, Produzent und Solokünstler (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge). Von ihm stammten in den vergangenen 15 Jahren alle Pop-Top-Ten-Hits, die nicht von Pharrell Williams waren. Bei alldem hat er sich aber eine gewisse Reputation als ernst zu nehmender Musiker und, fast noch beeindruckender, Musikliebhaber bewahrt. Klasse Typ also, und außerdem ein enorm sympathischer Menschenfänger und Moderator, der die für beides sehr nützliche Fähigkeit besitzt, sich in genau den richtigen Momenten etwas dümmer zu stellen, als er ist.

Ronson nähert sich dem Autotune zunächst von der Puristenseite. Er spielt eine der Gesangsspuren von Lady Gaga aus dem Oscar-prämierten Song "Shallow" (hat er mit Gaga komponiert) vor, um in seiner ersten Wortmeldung klarzustellen, "the most powerful instrument in recorded music? Well, it has to be the human voice". Die menschliche Stimme sei also das mächtigste Instrument, seit Musik aufgenommen wird. Und Autotune entsprechend nichts als Betrug, Fake und Untergang von Abendland und allem, was sonst echt und ehrlich ist.

Mit Autotune ist es wie mit allem: Kunst entsteht dort, wo man möglichst viel verkehrt macht

Das wäre dann auch schon der erste Moment, in dem er sich zweckdienlich verdummt. Denn auch Ronson weiß natürlich, dass die Software zwar tatsächlich mal eine beinahe manisch geheim gehaltene Schummelei war. Schlechte Sänger wurden mit ihr erträglich, gute konnten sich auf anderes konzentrieren, und sehr gute zitierten Freunde in den hinteren Teil von Flugzeugen, um in besorgten Gesprächen zu offenbaren, wie wenig sie vom Pop verstehen. Mit Autotune, auch das erlebt man, ist es aber ansonsten wie mit allem (im Pop) - Kunst entsteht dort, wo man möglichst viel verkehrt macht. Wo Sängerin Cher den Effekt in "Believe" also zum Beispiel so extrem einsetzen ließ, dass er jenes Eigenleben entwickelte, das der Egomane Kanye West auf seinem Album "808s & Heartbreak" dann zum Stilmittel eines ganzen Jahrzehnts aufblasen konnte.

Paul McCartney (l.), Möwen-Imitator, Komponist und "Beatles"-Bassist (hier mit einer Gitarre und Mark Ronson). (Foto: Apple TV+)

Irgendwann in der Folge sitzt Ronson jedenfalls mit Sean Lennon im Studio (wie er in jeder Folge mit irgendwem aus dieser oder einer höheren Gewichtsklasse in Studios sitzt) und lässt Gesangspuren von dessen Vater John durch den Effekt laufen. Ehrfurcht gebietender, winzig kleiner Monster-Pop-Moment. Lennon in seiner ganzen vielbeweinten "Früher war alles besser"-Genialität. Singt aus der Vergangenheit aber nun einfach ins Jetzt hinein. Mehrere Lagen Pop-Historie, zusammengeschoben auf ein paar Sekunden. Man könnte so was womöglich auch einfach mal im deutschen Schulunterreicht zeigen. Nur so eine Idee.

Auch Ronson spricht irgendwann mit T-Pain, der eine Zeit lang ungefähr so sehr geschätzt wurde wie, sagen wir mal, queere Schwarze im Country der 60er. Oder der 70er. Oder der 80er, 90er und 2000er.

Orville Peck erklärt, warum der queere schwarze Country-Rapper Lil Nas X von der Country-Szene geschätzt wird. Irgendwie. Fast

Was nun wieder zu Netflix führt, wo der maskierte queere Country-Sänger Orville Peck in einer Folge als Gastgeber der Frage "Ist das noch Country oder schon Pop?" nachgeht und dabei unter anderem erklärt, warum der queere schwarze Country-Rapper Lil Nas X so großartig und erfolgreich ist, dass selbst die Country-Szene der 2020er ihn schätzt. Also ein Teil von ihr. Irgendwie. Fast.

Vom Songwriter, Blur-Bassisten und Käseproduzenten (auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge) Steven Alexander James erfährt man aus der Kokain-schwitzenden 90er-Nahperspektive die wichtigsten und irrsten Eckdaten zum Aufstieg und Verglühen von Britpop. Menschen, die sich erinnern können und angeblich trotzdem dabei waren, feiern in einer anderen Folge die Bedeutung von Festivals wie Coachella oder Glastonbury. Pop-Geschichtsunterricht. Ganz bunt, ganz liebevoll, ganz detailreich, ganz toll.

Nicht ganz neu natürlich auch. Vor allem "Watch The Sound" orientiert sich - wie ja alle im Fach "Musik von Nerds für Laien erklärt" - an dem, was die niemals genug anzuhimmelnde "Earworm"-Serie von Vox schon seit vielen Jahren tut. Aber weil Apple dahintersteckt, hat man eben unendlich viel Geld und damit Stars, Beziehungen, Reisebudget und teure Kameras und Mikrofone. Und das übersetzt sich in der Zeit der High-Res-Bilder und Großkünstler-Ultranahbeobachtungen nun mal oft in Qualität - egal, ob selbst erfunden, oder sehr gut kopiert und vergrößert. Was willst du machen.

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Ronson zeigt also eine Folge lang, absolut erstklassig, wie ein Song von Amy Winehouse klanglich um fünf Dekaden in die Vergangenheit katapultiert wird, einfach nur, weil er den genau richtigen Hall bekommt. Doch, doch, richtig gelesen: Eine ganze Folge von "Watch The Sound" befasst sich ausschließlich mit, wie der Name es schon anzeigt, "Reverb". Das "Sampling" lässt er sich in einer anderen Folge von DJ Premier und dem weithin begnadetsten Möwen-Imitator, Komponisten und Beatles-Bassisten (unbedingt in dieser Reihenfolge) Paul McCartney erklären. Die verbleibenden Beastie Boys und der Roots-Drummer Questlove führen ihm mehrere Jahrzehnte "Drum Machines" vor - zeigen also vor allem, wie Kästen von der Größe eines Aktenkoffers eine ganze Industrie demokratisierten und die seither fast ungebrochen mächtige Hip-Hop-Kultur ermöglichten.

Das ist das Grandiose am Pop: Extrem große Phänomene passen oft in sehr kleine Geräte.

In einer Folge geht es dann auch nur um "Verzerrung", und die Apple-Macher sind sogar umsichtig genug, sich den Effekt auch vom Schwarzen Living-Colour-Gitarristen Vernon Reid erklären zu lassen - und von Kathleen Hanna, der Sängerin von Bikini Kill. Von zwei Minderheiten im Rock also.

Der Refrain bei "Nirvana"-Songs? Kommt immer, wenn Kurt Cobain aufs Distortion-Pedal tritt. Sagt Drummer Dave Grohl, und der muss es wissen. (Foto: Apple TV+)

Und, klar, von Dave Grohl - Nirvana-Schlagzeuger, Foo-Fighters-Frontmann, Ein-Mann-Rock'n'Roll-Authentizitäts-Armee. Ronson und er sitzen in einem Studio, haben gerade einen Lautsprecher mit einem Messer zerschlitzt, um zu sehen, ob er dann zerrt (Spoiler: ja). Und dann verrät Grohl den Trick, wie man als Drummer für Kurt Cobain wusste, wann der Refrain (also der volle, emotionale Ausbruch) kommt, ohne beim Schreiben der Songs je darüber geredet zu haben. "Als Schlagzeuger siehst du, wie Kurts Fuß sich dem Distortion-Pedal näherte. Also öffnest du die Hi-Hat ein bisschen." Er fuchtelt noch verhalten, aber schon sehr verschmitzt mit den Armen. "Gleich kommt es! Gleich kommt es! Du weißt, dass es jetzt jeden Moment kommen muss - ein Takt noch." Das Fuchteln ist inzwischen sehr energisch. "Und dann: Bäm!"

Die Grunge-90er, eingepasst in ein Effektpedal namens "Rat". Ratte. Kleiner, schwarzer Metall-Kasten. Etwa 60 Dollar. Wird immer noch produziert. Innen drinnen Tonnen an Emotionen. Tolles Teil. Tolle Serien.

"Watch The Sound", sechs Folgen bei Apple TV+

"This Is Pop", acht Folgen bei Netflix

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