Macht es Sinn, in einer Zeit, in der die Bühnen monatelang geschlossen waren und noch immer zwangsgeschlossen sind, am Berliner Theatertreffen festzuhalten? Unbedingt, findet dessen Leiterin Yvonne Büdenhölzer: "Wir wollen das, was stattfand, diskutieren und würdigen und darüber sprechen, was möglich und was nicht möglich war." Und weil sie die Jury da ganz auf ihrer Seite hat und diese trotz Corona immerhin 285 Inszenierungen gesichtet hat - normalerweise sind es um die 400 -, gibt es sie tatsächlich wieder: die zehn "bemerkenswertesten Inszenierungen" eines Jahres, bekannt gegeben am Dienstag bei einer digitalen Pressekonferenz.
Als digitale Ausgabe wird im Mai womöglich auch das Theatertreffen selbst stattfinden (müssen), so wie schon im vergangenen Jahr. Erstmals sind zwei Arbeiten in der Auswahl, die als Livestream im Internet herauskamen: "Der Zauberberg" nach Thomas Mann in der Regie von Sebastian Hartmann (Deutsches Theater Berlin) und das kreativ mit der Pandemiesituation umgehende Distanztheater-Projekt "Show Me A Good Time" des Performance-Kollektivs Gob Squad (HAU Berlin u. a.).
Das Deutsche Theater Berlin und das Schauspielhaus Zürich sind mit jeweils zwei Inszenierungen eingeladen
Das Deutsche Theater Berlin ist auch noch mit einer zweiten Inszenierung dabei, "Maria Stuart" in der Regie von Anne Lenk. Die 43-Jährige lässt den Schiller-Klassiker auf einer coronagerechten Setzkastenbühne spielen, als "schneidend genaues Machtspiel aus Sach- und Raumzwängen", wie es vonseiten der Jury heißt. Auch das Schauspielhaus Zürich unter der Doppel-Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg darf sich über zwei Einladungen freuen: "Einfach das Ende der Welt" nach Jean-Luc Lagarce, die Geschichte eines verlorenen Künstler-Sohnes, der nach zwölf Jahren in der Stadt todkrank zu seiner Familie auf dem Land zurückkehrt, scharfkontrastig als "neurotisches Gespinst" inszeniert von Theatertreffen-Darling Christopher Rüping. Dazu die "Medea"-Interpretation der jungen Regisseurin Leonie Böhm, laut Jury "die Geschichte einer Selbstermächtigung", in der Titelrolle Maja Beckmann, "eine Medea von heute, die das ganze kranke System an die Wand fährt".
Karin Beier, die Intendantin des Hamburger Schauspielhauses, wurde für ihre "grandios finstere, verstörende" Uraufführung des Stücks "Reich des Todes" von Rainald Goetz nominiert. Darin hält der Autor Gericht über die moralische Verkommenheit der amerikanischen Politik nach 9/11. Barbara Frey, lange Zeit Intendantin in Zürich, nun Leiterin der Ruhrtriennale, kommt mit einer Inszenierung, die sie am Wiener Burgtheater vor einem bühnenfüllenden Würstel- und Bierautomaten herausgebracht hat: "Automatenbüfett", die Wiederentdeckung der 1902 in Wien geborenen, weithin vergessenen jüdischen Autorin Anna Gmeyner.
Noch ein regieführender Intendant steht auf der Liste: Stefan Bachmann, lange nicht mehr beim Theatertreffen dabei gewesen, leitet das Schauspiel Köln. Eingeladen aber ist er mit einer Inszenierung, die er als Gast bei seinem Kollegen Andreas Beck am Theater Basel erarbeitet hat und die längst auch schon an Becks neuem Haus, dem Münchner Residenztheater, hätte Premiere haben sollen, wenn die Corona-Pandemie das nicht verhindert hätte: "Graf Öderland" von Max Frisch, der irrationale Amoklauf eines kleinbürgerlichen Staatsanwalts, erzählt als "mitreißendes musikalisches Bildertheater" auf einer gigantischen Trichterbühne von Olaf Altmann.
Die Münchner freie Szene ist - Überraschung! - mit dem Tanzprojekt "Scores That Shaped Our Friendship" (Schwere Reiter) vertreten. Darin loten die mit spinaler Muskelatrophie geborene Schauspielerin Lucy Wilke und der queere Tänzer Paweł Duduś ihre Freundschaft aus, auch körperlich. Die beiden wurden dafür 2020 schon mit dem Faust-Theaterpreis ausgezeichnet. Lucy Wilke ist seit dieser Spielzeit Ensemblemitglied an den Münchner Kammerspielen. Die haben auch "NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+" mitproduziert, das am Berliner Ballhaus Ost Premiere hatte - ein Stück von Marie Schleef (Text und Regie), in dem die unverwüstlich famose Anne Tismer viermal 90 Minuten lang vergessenen Frauen hinterherspürt, hinterhertanzt.
Auffallend viele Frauen also. Die 50-Prozent-Quote, die beim Theatertreffen seit vergangenem Jahr gilt, wurde mit insgesamt sechs Inszenierungen von Regisseurinnen erneut übererfüllt. Trotzdem soll sie noch einmal um zwei Jahre verlängert werden. Die Auswahl zu kommentieren oder zu kritisieren, wäre in diesem Jahr vermessen. Wer hat schon viel Theater zu sehen bekommen. Umso größer ist die Vorfreude.