Theater:Wer das Leben sucht, wird Wut ernten

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Erkundungen über die eigene Herkunft: Jonathan Hutter und Anne Stein erforschen das Mädchenhafte im Buben. (Foto: Gabriela Neeb)

Philipp Arnold inszeniert am Volkstheater die deutsche Erstaufführung von Édouard Louis' Roman "Wer hat meinen Vater umgebracht" mit großer Empörung und tiefer Zärtlichkeit

Von Egbert Tholl

Drei Sätze aus dem Text. Der erste, nach Sartre: Herkunft bedeute, bestimmte Lebensentwürfe nicht zu erreichen. Zweiter Satz, er stammt von der amerikanischen Intellektuellen Ruth Gilmore: Rassismus bedeute, bestimmte Teile der Bevölkerung einem verfrühten Tod auszusetzen. Dritter Satz, ihn spricht Jonathan Hutter: "Als ich später nach Paris geflohen war und dort abends in Bars Männer traf, die mich nach dem Verhältnis zu meiner Familie fragten, antwortete ich immer, dass ich meinen Vater hassen würde. Dabei stimmte das gar nicht."

Philipp Arnold hat aus Édouard Louis' Buch "Wer hat meinen Vater umgebracht" einen wunderbar klugen und anrührenden Theaterabend gemacht. Am Volkstheater ist der Text nun zum ersten Mal in Deutschland zu erleben, die deutschsprachige Erstaufführung war im November in Wien. Louis ist 27 Jahre alt, und dies ist sein drittes Buch, ein offener Brief, eine Anklage, eine biografische Notiz, eine Analyse. Im Vorwort empfiehlt er es selbst fürs Theater. Wie er beschreibt, wie die Szenerie auszusehen habe, wäre dies ein Theatertext, doch das interessiert Arnold gerade so viel, dass er zu Beginn zitiert. Dann macht er ungeheuer konzentriert ganz was anderes. Mit drei Menschen auf der kleinen Bühne, die einem nahe gehen, Anne Stein, Jakob Gessner und Jonathan Hutter.

Louis' Lebensweg straft Sartres Aussage durchaus Lügen, der Mann, Arbeiterkind aus prekären Verhältnissen in jämmerlicher Gegend, ist inzwischen ein Vorzeigeintellektueller der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich. Das Sterben des Vaters indes bestätigt den Satz von Gilmore. Rassismus bedeutet hier, Rassismus der Reichen, denen die Armen egal sind. "Für die Herrschenden ist die Politik weitgehend eine ästhetische Frage. Für uns ist sie eine Frage von Leben und Tod."

Arnolds Inszenierung ist auch eine spannende Spurensuche. Wie war der Vater, an den Louis die Worte richtet? Die drei auf der Bühne stehen erst in langen Hosen und Unterhemden vor dem Publikum, dann begeben sie sich in die Suche hinein. Gessner verschwindet in dem halbtransparenten Zelthäuschen, das die Spielfläche einnimmt, zieht eine Maske auf, die ihn zum alten Mann macht. Die Maske schafft Distanz, ist wie eine Schicht, die es abzutragen gilt. Mehr Masken werden auftauchen und wieder verschwinden, Anne Stein wird so zur Mutter, aber das ist nie gemeint als Identifikationsspiel, eher als Zeichen. Eine Videokamera vergrößert die Masken, die Gesichter, die Köpfe auf Größe der Häuschenwand. Aber auch die Wände verschwinden im Laufe dieser rasanten 70 Minuten, weil nichts mehr den Sohn vom Vater trennen wird.

Der Körper ist der einzige Stolz, den der Arbeiter hat. Deshalb durfte der Sohn nicht schwul sein, sich nicht so seltsam bewegen. Aber wie war das? Hat nicht der Vater früher getanzt, sich die Mutter in ihn verliebt, weil er Parfüm trug? Was war mit Neige, dem Jungen aus dem Maghreb, damals in Südfrankreich? Und was ist mit diesem Foto, auf dem der Vater, damals vielleicht 30 Jahre alt, ein Kleid trägt und sich die Brust wie einen Busen ausgestopft hat?

Arnold geht diesem Aspekt nach, suggeriert deutlicher als im Original, dass der Sohn nicht schwul sein durfte, weil sich der Vater seine Neigung dazu selbst verboten hatte. Dafür reichert er den Text von "Wer hat meinen Vater umgebracht" mit Motiven aus Louis' Debütroman "Das Ende von Eddy" an. Das ist natürlich völlig legitim, die Fassung ist klug. Und steuert dann mit Wucht, Macht und Konsequenz auf ein Fanal der Realpolitik zu.

Bevor dieses erreicht wird, spielen alle drei sehr zärtlich, liebevoll miteinander, reden über den Vater und mit ihm, erkunden sehr viel von dessen Sohnesliebe, auch wenn er halt nicht aus seiner rauen Haut konnte. Zum Geburtstag kriegt der Sohn dann halt doch den ersehnten "Titanic"-Film. Wahrscheinlich hat ihn der Vater auch angeschaut, den Mädchenfilm, schließlich hörten sie zusammen im Auto Céline Dion und konnte der Vater auch mal vor einer Opernaufführung im Fernsehen heulen. Doch zu Weihnachten werden Unmengen an Lebensmitteln aufgefahren, weil der Vater in der ganzen Armut nicht anders sein will als die anderen. Die ganze Suche, die Motivsplitter treffen auch den Zuschauer, sie verweisen auf selbst Erlebtes, Gedachtes, Empfundenes.

Der Vater erlitt einen Arbeitsunfall, der stolze Körper ging kaputt, die Entscheidungen von vier französischen Präsidenten gaben ihm den Rest. Louis breitet alles aus: miese Versorgung, Demütigung als "Faulpelz" durch Macron, gekürzte Wohnungshilfe bei gleichzeitiger Absenkung der Vermögenssteuer. Jonathan Hutter schleudert die Worte heraus, vibrierend vor Wut, Verzweiflung, Entrüstung. Grandios, scharf, hart, klar und extrem notwendig.

Ganz am Ende sind alle drei noch einmal Kind und machen sehr lustige Grimassen. "Schau mal Papa, ein Alien!" Vielleicht kann der sieche Vater da noch mal lächeln.

© SZ vom 16.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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