Theater:Nachts in den Kammerspielen

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Die "Inszenierung des Jahres" am "Theater des Jahres": Szene aus dem Antiken-Marathon "Dionysos Stadt" an den Münchner Kammerspielen. (Foto: Julian Baumann)

Zehn Stunden Theater: Das Münchner Projekt "Dionysos Stadt" darf zur Branchenschau nach Berlin

Von Barbara Hordych

Wenn aus der lärmenden Erzählung dieses Ur-Kriegs Gro Swantje Kohlhof als Kassandra sich herausschält und beginnt, die Schlacht um Troja rückwärts zu schildern, dann sind das einige der eindrücklichsten Theaterminuten in Christopher Rüpings zehnstündigem Antiken-Marathon "Dionysos Stadt". Die Inszenierung in den Kammerspielen wurde jetzt mit der Einladung zum Theatertreffen in Berlin ausgezeichnet. "Vorher hat niemand meinen Prophezeiungen Glauben schenken wollen, das war ja der Fluch, mit dem der Gott Apollon meine Sehergabe belegt hat, nachdem ich ihn abgewiesen habe. Da sage ich mir: Gut, wenn ihr mir nicht glauben wolltet, was Grauenvolles passieren wird, dann hört ihr jetzt eben meine Vision dessen, was passiert ist, mit umgekehrten Vorzeichen", sagt die 24 Jahre alte Darstellerin bei einem Treffen in der Kantine der Kammerspiele. Seit 2018 gehört die gebürtige Hamburgerin, die an der Universität der Künste in Berlin Schauspiel studierte, zum Ensemble.

In diesen urplötzlich ruhigen Minuten, wenn Troja in Schutt und Asche liegt, kehrt sie als Kassandra die Zeit um: Da graben Frauen ihre Söhne, Brüder und Männer aus dem Boden aus, da schlagen die Schwerter keine Wunden, sondern verwandeln sich in magische Geräte, die Wunden verschließen. Selbst der kleine Sohn von Hektor und Andromáchē, den die Sieger von Trojas Stadtmauer herab warfen, weil aus ihm später einmal ein Rächer werden könnte, wird zurückgeschleudert in die Arme seiner Mutter. "Ich liebe diesen Text. Nach dem ohrenbetäubenden Kampf muss ich mich aber richtig zwingen, innezuhalten, mir Zeit zu nehmen für diese ruhigen Minuten, die eine Vorstellung davon geben, wie das ganze Leid hätte ungeschehen sein können", sagt Kohlhof.

Zweimal im Monat wird das Antikenprojekt, bestehend aus drei abgeschlossenen Stücken und einem Satyrspiel, in den Kammerspielen gezeigt. "Und die Zuschauer bleiben - erstaunlicherweise. Als Darstellerin kenne ich die Angst, sie könnten nach den Pausen nicht wiederkommen, es könnten sich deutliche Lücken im Saal auftun. Aber das ist noch nie passiert." Auch wenn sie wisse, dass Bekannte mit dem Vorsatz kämen, vielleicht nur drei oder vier Stunden bei "Dionysos Stadt" zu verbringen, blieben die meisten doch bis zum Schluss.

Am Freitag, 8. Februar, gibt es nun die extremste Version dieses Theatererlebnisses: Beginn ist am Abend um 19.30 Uhr, dann geht es die ganze Nacht durch bis 5.30 Uhr. Nicht auf Beschluss der Theaterleitung, sondern auf Wunsch des Ensembles. Warum? "Von Anfang an hatten wir die Idee, dass wir diesen Rausch des Theatermachens einmal über Nacht erleben wollten, auch wenn wir damit sicherlich an den Rand der Erschöpfung gehen." Eine echte Herausforderung ist die lange Nacht auch für das Publikum. "Ich habe schon erlebt, dass Zuschauer Picknickkörbe mitgebracht und es sich auf Decken gemütlich gemacht haben in den Pausen. Das ist doch toll. Vielleicht vermittelt das auch etwas von dem Geist der mehrtägigen dionysischen Festspiele im alten Griechenland", sagt Kohlhof. Natürlich könne man die Pausen - die längste ist eineinviertel Stunden lang - auch dazu nutzen, nebenan in der "Kulisse" und im "Blauen Haus" zu essen. Sie selbst vermeide allerdings größere Mahlzeiten, nehme über die Stunden verteilt nur kleine Häppchen zu sich, "um nicht träge oder müde zu werden".

Wenn sie im dritten Stück, der als Farce inszenierten "Orestie", vom siegreichen Agamemnon als Kriegsbeute mit nach Hause geschleppt werde und mit ihm und seiner Frau Klytaimnestra am Tisch sitze, sei das freilich hart. Denn Maja Beckmann als Klytaimnestra serviert ihrem heimgekehrten Gatten, den sie kurze Zeit später ermorden wird, eine üppige griechische Vorspeisenplatte. "Die kriegt nix", verkündet sie mehrmals verächtlich in Richtung der gefangenen Kassandra. "Aber wenn Maja wusste, dass ich hungrig war, hat sie mich in dieser Szene auch schon mit Brot gefüttert, angeblich, um mir das Maul zu stopfen, so hat es die Rolle nicht beschädigt."

Das Tolle an dem Projekt sei, dass die Zuschauer über die vielen, gemeinsam verbrachten Stunden miteinander in Kontakt kämen. "Als mein Vater in der Vorstellung war, erzählte er mir, dass die Zuschauer rechts und links von ihm sich nach der ersten Pause bei ihm vorgestellt hätten." Spätestens nach der zweiten Pause hätte er das Gefühl gehabt, Bekannte wiederzutreffen. Der Besuch ihres Vaters bereitete ihr bei der Vorstellung der "Orestie", einem großen Morden unter den Atriden, ein "mulmiges Gefühl", sagt Kohlhof. "In einem Flashback spiele ich die Iphigenie, die von ihrem Vater Agamemnon in Aulis geopfert wird, der guten Winde wegen, um mit seinen Hellenen in den Kampf nach Troja zu segeln.

"Bitte, bitte nicht Papa, bring mich nicht um", flehte sie als Iphigenie vergeblich. "Meine Familie lebt in Hamburg, mein Vater fuhr auch noch selbst zur See", sagt Gro Swantje Kohlhof. Als sie ihn fragte, wie es ihm bei der Szene ging, in der sie von ihrem Bühnen-Vater getötet werde, habe er gescherzt: "Für eine frische Brise kann man das eine oder andere Kind schon mal verkaufen."

Eigene Erfahrung im Münchner Wohnungssuche-Dschungel lassen Gro Swantje Kohlhof die Vorstellung am 8. Februar noch unter einem ganz anderen Blickwinkel betrachten: "Ich habe wochenlang auf verschiedenen Couches genächtigt, bis ich endlich mein jetziges Apartment gefunden habe." Das Theaterereignis könne sich also gerade für diejenigen lohnen, die von weiter her anreisten. "Eine Nacht in München, mit einem Dach über dem Kopf für nur 17 Euro, das ist doch unschlagbar."

Dionysos Stadt , Freitag, 8. Februar, 19.30 Uhr bis Samstag, 9. Februar, 5.30 Uhr, Kammerspiele

© SZ vom 01.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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