Festival "Tanz in den August":Sturz in die Finsternis

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Radikaler Blick auf Gegenwart: Bruno Beltrãos "New Creation". (Foto: Jose Caldeira)

Mit politischen Parabeln und ästhetischen Abenteuern verabschiedet sich die Kuratorin Virve Sutinen von der Leitung des Berliner Festivals "Tanz im August". 

Von Dorion Weickmann

Auf diesen Auftritt konnte man sich blind verlassen: Seit 2014 eröffnete Virve Sutinen alljährlich den Berliner "Tanz im August" in astreinem Englisch. Nicht minder lässig surfte die finnische Kuratorin anschließend durch die Vorstellung des Festivalprogramms. Davon müssen sich Publikum, Künstler und Kritiker nun verabschieden. Am vergangenen Wochenende endete die aktuelle Festivalausgabe und mit ihr auch die Ära Sutinen.

Einen besseren Ausstieg als die 2022er-Edition hätte sich die scheidende Chefin kaum verschaffen können. Sutinen setzte einen starken Schlusspunkt, der die Frage nach den Gründen ihrer nicht ganz freiwilligen Abdankung aufwarf. Annemie Vanackere, Leiterin des Theaterkombinats Hebbel am Ufer, das als Gastgeber und Produzent des Festivals firmiert, hat ihren hauseigenen Tanzkurator Ricardo Carmona zum Nachfolger bestellt. Er tritt kein leichtes Erbe an. Seine Vorgängerin hat ein paar Pflöcke eingeschlagen, die dem Festival zwar nicht den Glanz seiner Anfangsjahre in den Achtzigern zurückbrachten, aber Alleinstellungsmerkmale bescherten. Zum Beispiel die ausschließlich mit Tanzmacherinnen bestückten Retrospektiven: Ob Rosemary Butcher, La Ribot oder zuletzt Cristina Caprioli - immer gab es Originäres und Originelles zu entdecken. Zudem kannte Sutinens Tanzverständnis keine Scheuklappen: Sie stellte Formate aus aller Welt und allen Genres zur Diskussion und riskierte durchaus auch Reinfälle.

In diesem Jahr verhedderte sich ausgerechnet der Festivalauftakt in den Fallstricken des politisch Korrekten. "Jurrungu Ngan-ga" aus Australien kam als wenig überzeugende Unrechtsparabel daher, die sich im performativen Einerlei schnell totgelaufen hatte. Auch Kreation der Kanadierin Daina Ashbee "J'ai pleuré avec les chiens - time, creation, destruction" entpuppte sich als niedliches Herumgetolle einer Handvoll Nackedeis. Doch nach ein paar Tagen schwang sich das Festival mit Marcos Moraus irrlichterndem "Sonoma" und Oona Dohertys Bonjour-Tristesse-Ballade "Navy Blue" (SZ vom 12.8.) zu Betriebstemperaturen auf, die dem Berliner Sommer Konkurrenz machten. Das Hoch hielt bis zur Ziellinie und den beiden dort postierten Antipoden: Adam Linders "Loyalty" und Bruno Beltrãos "New Creation".

Adam Linders "Loyalty" huldigt den Paraderollen des 19. Jahrhunderts

Plisseevorhänge begrenzen das Blickfeld, links hinten steht ein magentafarbenes Objekt - halb Schneewittchen-Sarg, halb Artefakt aus der Computer-Steinzeit. In einer Spalte des Stoffes erscheinen zwei Figuren, die eine rücklings, die andere im Halbprofil mit allerfeinster Ballettpositur. Damit beginnt Linders fulminantes "Loyalty", das binnen einer Stunde den Bewegungskanon des klassischen Tanzes erst modelliert, dann zersetzt und restrukturiert. Adam Linder, einst von Londons Royal Ballet School ins Lager der Ballett-Abtrünnigen gewechselt, kehrt nicht einfach zu seinen Wurzeln zurück. Vielmehr nimmt er die aristokratische und romantische Tradition seiner Kunst auseinander, assistiert von einem Tänzer, der die weibliche Opfermystik auf die Ballerinen-Spitze treibt: Splitternackt gräbt Doug Letheren ein Grab in den Bühnenlüften und legt sich selbst hinein, mit züchtig vor der Brust gekreuzten Armen. Dieses Epitaph huldigt den Paraderollen des 19. Jahrhunderts.

Wo Linder das Ballett mit historischen Mitteln zur Strecke bringt und wieder auferstehen lässt, schaut Beltrão radikal auf die Gegenwart und die Lage seiner brasilianischen Heimat. Nicht umsonst läuft seine Arbeit als neutrale "New Creation", was das Offene, Ungefähre als Reflektion eines ungewissen Gesellschaftszustands betont. Zehn Performer ziehen in Wechselschleifen durch intime Miniaturen und Tutti-Szenen, dazwischen stürzt die schmucklose Bühne in vollkommene Finsternis. Beltrão folgt einem zweigleisigen Bildprogramm zwischen Christus-Ikonografie und Straßenszenen voller Gewalt, Gier und Verachtung. Noch kann die Brutalität urplötzlich in Trost und Mitgefühl umschlagen. Aber niemand weiß, wann und warum.

Die inhaltliche Matrix der Choreografie ist das Erstarken der Evangelikalen, die wirtschaftliche Talfahrt und die Aussicht auf eine Fortsetzung des Bolsonaro-Regimes, die Brasilien und vor allem seine junge Generation zur Verzweiflung treiben. Die Qualität solcher Aufführungen bleibt die Benchmark für "Tanz im August". Mithin auch für den neuen Kurator, Ricardo Carmona.

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