Staatsballett Stuttgart:Aus dem Takt

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Mikhail Agrest, Dirigent aus Russland, gefeuert in Stuttgart am Ballett: Man sieht sich vor Gericht. (Foto: Daniil Rabovsky/picture alliance/dpa/Staatstheater)

Totalschaden vor Gericht: Das Stuttgarter Ballett hat seinen Musikdirektor gefeuert.

Von Dorion Weickmann

Orchester können Tänzern den Todesstoß versetzen. Wird zu schnell oder zu langsam musiziert, geraten nicht nur Starsolisten aus dem Takt. Eine Ballettdirektion muss alles tun, um solche Blamagen zu vermeiden. Tamas Detrich, Intendant des Stuttgarter Balletts, hat Mitte Oktober 2021 seinem Musikdirektor Mikhail Agrest fristlos gekündigt - zum Schutz der Tänzer, wie das Theater mitteilt. Der Rausschmiss erfolgte nach einer völlig entgleisten Bühnenprobe mit Orchester. Mittlerweile ist die Sache vor Gericht, den Parteien wird zum Vergleich geraten. Danach sieht es freilich nicht aus. Wer mit Detrich spricht und eine Handvoll schriftlicher Antworten von Agrest dagegenhält, erkennt polarisierte Wahrnehmungen, Einschätzungen, Positionen. Blessuren gibt es hier wie dort, zur Konflikteskalation hat jeder beigetragen.

Am 13. Oktober findet die einzige Bühnen-Orchester-Probe für die Wiederaufnahme von John Crankos "Onegin" statt. Es steht coronabedingt nicht nur das erste Handlungsballett seit Monaten auf dem Spielplan, sondern ein Debüt in der Titelrolle - Hochdruck für alle Beteiligten. Auch der 2020 verpflichtete Musikdirektor Mikhail Agrest dirigiert das Stück zum ersten Mal. Reid Anderson - Ex-Intendant der Kompanie, weltweit als Coach der Cranko-Ballette im Einsatz - leitet die Probe. Detrich und die Ballettmeister sind ebenfalls anwesend. Gleich beim ersten "Onegin"-Solo entbrennt der Disput: zu rasant gespielt, kritisieren die Tanzexperten. Immerhin geht es hier um die Exposition eines schwermütigen Charakters. Doch Agrest steht auf dem Standpunkt, dass er Tschaikowsky zu respektieren und kein Begräbnistempo anzuschlagen habe.

Der Streitauslöser ist Tschaikowskys Nocturno op. 19 in cis-Moll, von Kurt-Heinz Stolze eigens für "Onegin" orchestriert. Und zwar nach John Crankos Vorgaben. Was bedeutet: Hier ist keine orthodoxe Tschaikowsky-Exegese gefragt, sondern klangliche Elastizität im Sinn der Choreografie. Sonst droht der Todesstoß für die Tänzer.

Der ersten Proben-Unterbrechung folgen weitere, immerzu geht es ums Tempo. Die Zeit läuft davon, Agrest und Anderson geraten heftig aneinander. Die Tänzer sind konsterniert, das Orchester solidarisiert sich mehrheitlich mit dem Dirigenten, spendet ihm anlässlich eines Wortgefechts Applaus. Für Tamas Detrich fühlt sich das an wie "ein Messer in meinem Rücken". Er sieht den Schulterschluss zwischen Klang- und Tanzkörper zerstört, durch seinen eigenen Musikdirektor. Reid Anderson verlässt den Saal, Detrich bringt die Probe zu Ende. Zwei Tage später entlässt er Mikhail Agrest - fristlos. Was dieser als "totalen Schock" erlebt, nachdem er am Vorabend noch dirigiert hat. Inzwischen erscheint durchaus fraglich, ob der Rausschmiss vor Gericht Bestand hat.

Denn die Vorwürfe, die Detrich zusätzlich erhebt, beziehen sich auf Vorkommnisse im Dezember 2019 - noch bevor Agrest mit einem Dreijahresvertrag ausgestattet wurde. In einer "Dornröschen"-Probe hatte der Dirigent Textnachrichten bearbeitet, zum Befremden der Tänzer wie der Choreografin Marcia Haydée. Die Messages betrafen allerdings arbeitsrelevante Inhalte, wie Agrest anschließend seinem Vorgesetzten mitteilte. Man einigte sich friedlich. Bis heute bekundet der Dirigent hohe Wertschätzung für den Intendanten, der ihn zu Beginn der laufenden Saison für "Nussknacker"-Recherchen noch belobigte.

Ein Affront war es allerdings, dass Agrest im November 2021 die Vorgänge um das Probendebakel netzöffentlich kommentierte, während sich sein ehemaliger Arbeitgeber so zähneknirschend wie eisern an die anwaltlich vereinbarte Schweigeverpflichtung hielt. Umso deutlicher fiel das Statement aus, das Detrich vergangene Woche nach dem ersten Prozesstermin verbreiten ließ. Demnach ist die Trennung ein Fait accompli - zum Schutz der Tänzer und infolge der "Polarisierung" zwischen Ballett und Orchester.

Damit ist der Kern des Konflikts auf dem Tisch: Augen- und Ohrenzeugen berichten, dass das Staatsorchester Stuttgart seine volle Klangkunst selten in Ballettvorstellungen entfalte. Insofern verweist die Causa Agrest auf ein chronisches Problem, das hausintern gelöst werden muss. Ebenso scheint eine Konfliktkultur zu fehlen, die kollidierende Künstlerköpfe wieder zurechtrückt. Der aktuelle Zusammenprall könnte den Steuerzahler wohl bis zu 200 000 Euro kosten. Für einen Bruchteil dieser Summe hätte man Mikhail Agrest ein hervorragendes Coaching angedeihen lassen können: Wie verhalte ich mich als neues Mitglied im intergenerationellen Stuttgarter Ballettfamilienverband, wie zur Cranko-Tradition? Es wäre eine lohnende Investition gewesen.

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