Serie "Stimmen der Demokratie":Im Kampf um die Demokratie ist tönendes Pathos falsch

Lesezeit: 5 Min.

Ein Plädoyer für eine karge, ja, glanzlose Rhetorik - die sich einzig auf das Wichtige konzentriert. Wie die Demokratie es ja auch tut.

Gastbeitrag von Jan Philipp Reemtsma

Im Herbst 1940 bat der britische Radiosender BBC den deutschen Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, in seinem kalifornischen Exil kurze Radiovorträge zu verfassen, die nach Nazi-Deutschland gesendet wurden. 55 Ansprachen verfasste Mann bis Kriegsende. Der Trägerverein der Begegnungsstätte Thomas-Mann-Haus in Los Angeles hat die Idee der Radioansprachen wieder aufgenommen und veranstaltet eine Reihe mit Ansprachen für die Demokratie, die die SZ abdruckt und der Deutschlandfunk sendet. Jan Philipp Reemtsma ist Germanist, Mäzen und Publizist. Er gründete das Hamburger Institut für Sozialforschung und die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

Worum sollte es einem gehen, wenn man sich für Demokratie rhetorisch ins Zeug legen möchte? Handelt es sich um ein "Projekt", wenn ja, um was für eins? Eines, um das es sich lohnt zu kämpfen? Bei Worten, hat ein kluger Mann einmal gesagt, tut man gut, alle Übergrößen zu vermeiden, und man sollte rhetorisch keine Krisen heraufbeschwören, nur um wie ein Kämpfer dazustehen.

Nun sind Demokratien immer gefährdet, sie haben offene Feinde, oft bieten schlecht konstruierte Verfassungen Möglichkeiten, sie zu ruinieren. Man hört allerdings oft, die gefährlichsten Feinde der Demokratie seien lethargische und indolente Demokraten. Das mag sein, aber was ist denn so etwas wie der oft beschworene "kämpferische Demokrat"? Bin ich so einer? Sind Sie es? Sollten wir so etwas sein? Was wäre denn ein Demokrat, der sich nicht bloß so nennt, weil Demokratie die "am wenigsten schlechte Regierungsform" ist, von der man gehört hat, sondern der mit mehr Enthusiasmus aufzuwarten hat?

Serie "Stimmen der Demokratie"
:Wir befinden uns in einer globalen Krise der Demokratie

Zum Auftakt der Serie "Stimmen der Demokratie" erinnert Francis Fukuyama an Thomas Manns Radioansprachen - und an Dissidenten in aller Welt, die seinen Kampf heute fortsetzen.

Gastbeitrag von Francis Fukuyama

Die engagierten Demokraten des 18. Jahrhunderts, ob nun auf den Straßen vor den Mauern einer Bastille oder am Schreibtisch vor einem Blatt Papier, sagten, schrieben oder schrien, sie repräsentierten den "Willen des Volkes". Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zögern wenigstens die Nachdenklicheren, diese Formulierung zu gebrauchen. Karl Popper schrieb, dass Demokratie gar nichts mit irgendeinem "Willen des Volkes" zu tun habe, sondern uns die Möglichkeit verschaffe, eine Regierung ohne Blutvergießen loszuwerden. Eine sanftere Version dieses Gedankens stammt von Adam Przeworski: Demokratie sei ein System, in dem Parteien Wahlen verlieren können. Mir gefallen diese Definitionen, und ich denke, man sollte mit ihnen weitermachen.

Die Idee der Demokratie besteht aus dem einfachen Gedanken, dass wir viel gewinnen, wenn wir einander vor dem Schlimmsten schützen

Die große Philosophin Judith Shklar bestimmte die Idee der Demokratie andersherum. Entscheidend sei nicht allein, was Demokratie uns erlaubt, nicht tun zu müssen (wenn wir eine Regierung loswerden wollen), sondern wovor wir in einer Demokratie keine Angst zu haben brauchen. Sie sprach von einem "Liberalismus der Furcht". Die Idee der Demokratie, die von diesem Blick auf die Welt herstammt, besteht in dem einfachen Gedanken, dass wir unendlich viel gewonnen haben, wenn wir uns und einander erfolgreich vor dem Schlimmsten schützen können.

Und "Grausamkeit", sagte Shklar, "ist das Schlimmste, was wir einander antun können" - und das Schlimmste, was uns widerfahren kann. Sie hat recht. Um uns vor diesem Schlimmsten zu schützen, müssen wir uns vor der Möglichkeit unumschränkter Machtausübung schützen und davor, dass Menschen eine Position in der Gesellschaft einnehmen können, in der sie unumschränkte Macht gewinnen können.

Demokratie in diesem Sinne ist ein Mittel zum Selbstschutz. Zunächst geht es um den Schutz von Minderheiten und zweitens um eine Art, wie die politischen Vorlieben von Mehrheiten durch Wahlen in politisches Handeln überführt werden können. Demokratie in diesem Sinne bedeutet: eine Verfassung mit garantierten Grundrechten für jeden und jede (ohne jede Ausnahme); ein transparentes Rechtssystem, das allen Schutz gewährt; Gewaltenteilung; ein unabhängiges System der Rechtsprechung; Redefreiheit, was heißt: freie und pluralistische Medien, die nur durch das Gesetz, nicht durch den Staat oder durch private Monopole kontrolliert werden. Politische Institutionen schließlich, die sich durch, wie man sagt, "checks and balances" einigermaßen selbst regulieren.

Mit "Demokratie" kann man sehr viel mehr an Hoffnungen verbinden, aber ohne dieses Minimum können sie nicht gedeihen. Wenn wir davon sprechen, dass wir "die Demokratie verteidigen" wollen, müssen wir dieses Minimum meinen. Wir können meinen und hoffen, die Demokratie schaffe den fruchtbarsten Boden für eine pluralistische und bunte Gesellschaft oder für die uneingeschränkte Entwicklung kreativer Individuen. Das mag sein (und ich möchte hinzufügen: hoffentlich). Mag auch sein, dass manche demokratisch verfassten Gesellschaften graue, langweilige, vom Ideal der Durchschnittlichkeit beseelte Kulturen produzieren, weil ihnen interessante Exzentriker fehlen und Leute, die sich bemühen, diese zu fördern - aber darum geht es nicht, wenn wir über die Zukunft der Demokratie reden.

Man kann kulturellen Hintergründen entkommen, "asiatischen", "abendländischen", "afrikanischen"

Wenn wir das tun, diskutieren wir auch nicht über einen bestimmten kulturellen Hintergrund, nennen wir ihn "abendländisch", "afrikanisch", "asiatisch" - wie auch immer wir ihn nennen, darum geht es nicht. Wenn mich jetzt jemand unterbricht und sagt, dieser Gedanke sei nur eine Art weichgespülten abendländischen Herrschaftsanspruchs, antworte ich, dass ich diesen Verdacht verstehe und auch meine, dass dieser Verdacht zu Recht besteht und geäußert wird.

Aber ich möchte darauf bestehen, dass der beste Weg, miteinander zu leben, nicht darin besteht, kulturelle Hintergründe für etwas zu halten, dem wir nicht entkommen können, sondern dass wir an Gesellschaften arbeiten sollten, in denen wir jeden kulturellen Hintergrund so ansehen können, als wäre er ein Stück weit unser eigener. Das ist anstrengend und braucht Zeit; aber Lernen ist doch eigentlich etwas, das Spaß macht.

Zurück zu einem Verständnis von Demokratie als einem Minimum von Selbstschutz gegen das Potenzial von Grausamkeit, das in unumschränkter oder wenigstens unzureichend kontrollierter Macht liegt - Grausamkeit von Folter und Schikane in Gefängnissen bis zur Verletzung von Menschen wegen ihres Aussehens, ihrer Sprache, ihrer Ansichten. Wir legen uns für dieses Minimum meist nur dann ins Zeug, wenn es in Gefahr ist. An vielen Orten dieser Welt ist es in Gefahr, viele Orte sind weit von seiner Verwirklichung entfernt; aber viele Orte sind stabile Demokratien, ob man nun die Parteien oder Personen, aus denen ihre Regierung besteht, akzeptabel findet oder nicht.

Tatsächlich ist die Idee von Demokratie, die ich hier vortrage, eine defensive. Nicht weil sie irgend schwach oder soll man sagen: kleinlaut wäre. Für alle, die eine Gesellschaft, in der die Stärksten, Brutalsten und Flegelhaftesten dominieren, fürchten - man überschaue die Geschichte, man sehe sich in unserer Welt um und braucht nicht zu suchen -, ist eine solche Idee nichts als selbstverständlich.

Seien wir ehrlich: Die Idee politischer Gleichheit wird durch wirtschaftliche Ungleichheit beschädigt oder sogar zerstört

Ja, es ist irgendwie unbefriedigend, das Selbstverständliche zu betonen. Aber wer das enttäuschend findet und möchte, dass ich jenseits dieses Selbstverständlichen noch dies und das und was immer ihr oder ihm am Herzen liegen mag, hervorkehre, bedenke, dass wir uns nur dann dann darüber verständigen können, wenn wir es auf diesem sicheren Boden tun können. Für solche Debatten leben wir. Wer seine besonderen politischen oder kulturellen Ideen mag, aber die Vorstellung, dass über sie öffentlich debattiert wird, nicht, ist jedenfalls kein Demokrat oder keine Demokratin.

Aber ist die Idee politischer Gleichheit (und darauf beruht ja die Idee der Demokratie) nicht witzlos ohne wirtschaftliche Gleichheit und wird sie nicht durch jede Form sozialer und wirtschaftlicher Privilegien oder Diskriminierungen beschädigt oder zerstört?

Seien wir ehrlich: Sie wird nicht nur tangiert oder beschädigt, sondern oft zerstört durch Ungleichheiten und Unterprivilegierungen. Seien wir vorsichtig: Man erkläre die Idee der Demokratie, wie ich sie skizziert habe, deswegen nicht für bloßes Gerede. Der einzige Weg, den wir kennen, Ungleichheiten und Diskriminierungen zu bekämpfen oder wenigstens ihre Auswirkungen zu minimieren, ist, das in demokratischem Rahmen zu tun. Das kann man wahrscheinlich doch aus der Geschichte lernen. Jedes undemokratische und autoritäre Regime hat nur die Privilegien der Privilegierten (manchmal der neu an die Macht gekommenen) stabilisiert und gestärkt.

Sie möchten eine glänzendere Rhetorik? Wenn Sie verstehen, dass bezüglich der Demokratie das Beste, was Sie bekommen können, dieses karge Konzept eines Schutzes der Bürgerinnen und Bürger vor Grausamkeit und unumschränkter Macht ist - dann verstehen Sie vielleicht auch, dass sie auf dieser Zurückhaltung von tönendem Pathos ruht.

© SZ vom 29.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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