Hat Spotify meinen Musikgeschmack geklaut? In den sozialen Netzwerken tauschen sich Musiker, Musikjournalisten und DJs immer häufiger darüber aus, wie gespenstisch gut die Empfehlungs-Algorithmen des Streaming-Marktführers geworden sind. Nie hätte man gedacht, dass einem Software mal so treffsicher neue Musik ins Ohr spülen würde, die gefällt. Man fühlt sich ertappt, durchschaut. Zukunftsängste kann das vor allem bei DJs und Musikjournalisten auslösen, deren Job ja das Kombinieren, Kontextualisieren und Empfehlen von Musik ist. Beteiligt man sich auf Spotify an einem riesigen digital-behavioristischen Experiment, das die Identitäts-Ausgestaltung via Musik zu algorithmischer Routine werden lässt und Arbeitsplätze bedroht?
Ersteres auf jeden Fall, zweiteres vielleicht nicht, Spotify schafft ja auch neue Arbeitsplätze, aber dazu später. Zunächst einmal ist sehr interessant, dass die Autorinnen und Autoren des neuen Buchs "Spotify Teardown. Inside The Black Box of Streaming Music" gründlich mit dem Missverständnis aufräumen, dass es bei Spotify überhaupt - oder zumindest in erster Linie - um Musik geht. Sicher, der Streaming-Service hält ständig über 30 Millionen digitale Files bereit, seit 2015 lagern diese auf den Cloud-Servern des Google-Konzerns, betrieben zu 56 Prozent mit Ökostrom. Egal wo auf der Welt man auf Spotify klickt, der Track beginnt innerhalb von 50 Millisekunden zu spielen - beeindruckend. Aber: "Wenn man auf Spotify-Play drückt, hört man nicht nur Musik, sondern eine Kakophonie vieler weiterer Daten", schreiben Maria Eriksson, Rasmus Fleischer, Anna Johansson, Pelle Snickars und Patrick Vonderau. Das interdisziplinäre Forscherteam hat sich an der Universität Umeå in Schweden zusammengetan, um Spotify und die von ihm geprägte Streaming-Kultur aus den Perspektiven der Sozialanthropologie, der Wirtschaftsgeschichte, der Ethnologie und der Medienwissenschaften zu untersuchen.
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Mit Kakophonie sind natürlich die werberelevanten Daten gemeint, die Spotify sammelt und auswertet. Nutzer, die nicht monatlich für ein Premium-Abo zahlen wollen, bekommen individualisierte Werbung vorgespielt. Das Übliche heute: Man freut sich darüber, etwas "umsonst" zu bekommen, ärgert sich dann aber darüber, dass man einem Daten-Broker hilft, private Informationen durchs Netz um die Welt zu schicken. Das Forscherteam aus Umeå fand etwa heraus, dass Spotify werberelevante Daten an die Server einer Firma in den USA schickt, deren Dienste auch vom amerikanischen Verteidigungsministerium in Anspruch genommen werden. Es ist nicht die einzige Stelle in diesem exzellenten Buch, die sich dystopisch, fast sogar thrillerhaft liest.
Spotify wollte die staatliche Förderung seiner Erforschung unterbinden
Dieser Kitzel wird noch dadurch verstärkt, dass Spotify die diesem Buch zugrundeliegende Forschung unterbinden wollte. Als das Unternehmen, gegründet 2006 in Stockholm von den zwei Marketing-Multimillionären Daniel Ek und Martin Lorentzon, im Jahr 2017 erfuhr, dass sich in Umeå ein Projekt der Erforschung von Spotify widmet, wendete sich Spotify an den Schwedischen Forschungsrat. Der hatte das Projekt mit einer Million Euro gefördert. Spotify stand damals kurz vor dem Börsengang und wollte, dass die Mittel gestrichen werden. Begründung: Die Methoden der Forscher verstießen gegen die Nutzungsbedingungen. Nun kann sich die Freiheit der Forschung eigentlich nicht an den Nutzungsbedingungen von Unternehmen orientieren, noch dazu, wenn diese sich nur sehr ungern in die Karten schauen lassen. Und sind Nutzungsbedinungen überhaupt rechtsverbindlich? Der Forschungsrat strich die Mittel nicht.
So fanden die Forscher dann auch heraus, dass sich die Klickzahlen auf Spotify mit selbst programmierten "SpotiBots" durchaus nach oben treiben lassen. Für Spotify ist das ein sehr heikler Aspekt, denn er bedeutet ja, dass sich digital manipulieren ließe, wie viel - oder wie wenig - Lizenzgebühren der Dienst am Ende des Monats an eine Plattenfirma oder einen Künstler ausbezahlen muss. Die Forscher manipulierten nicht die Streaming-Statistiken von Pop-Größen wie Katy Perry oder Drake, sondern spielten automatisiert Stücke ab, die sie selbst auf Spotify geladen hatten. Ganz so einfach ist das wiederum nicht. Musiker, die nicht bei einem der drei großen Plattenkonzerne Universal, Sony oder Warner unter Vertrag stehen (sie alle halten Anteile an Spotify, so wie auch Coca-Cola, Goldman Sachs und diverse Venture-Kapital-Firmen), müssen über sogenannte Aggregatoren gehen, wenn sie Musik auf Spotify anbieten wollen. Aggregatoren sind Dienste, die Spotify zuarbeiten und nach Kriterien, die nicht immer klar sind, eingesandte Dateien auf Tauglichkeit prüfen. Sie nehmen dafür rund 15 Prozent der Einnahmen. Die Bewertung erfolgt algorithmisch.
Da entscheiden dann also Musik-Analyse-Algorithmen, ob die angebotene Datei wirklich Musik enthält oder nicht. Und winken dann Küchengeräusche durch: Der Track "Kaffe" des von der Forschergruppe erfundenen Künstlers Fru Kost (Frühstück) wurde auf Spotify so häufig gestreamt, dass sie immerhin Anspruch auf 6,28 Dollar gehabt hätten. Das ist lustig, aber auch bitter. Die Beschwerden der Musiker, dass die Vergütung von etwa einem halben US-Cent pro Stream viel zu wenig sei, reißen ja nicht ab. Zugleich gilt Spotify als der Retter der Musikindustrie, als der Streaming-Dienst, der es geschafft hat, die beste Alternative zur Raubkopiererei, die der Industrie in den Nullerjahren so zusetzte, zu entwickeln. Zur Rettung gehört allerdings nun auch, dass ein Fünftel der über 30 Millionen Tracks auf Spotify nicht ein einziges Mal angeklickt worden sind. Die Forscher kennen einen schönen Namen für diese digitale Geistermusik: Forgotify. Das krasse Überangebot ist aber auch eines der Verkaufsargumente von Spotify. Und um dieser riesigen Daten-Massen irgendwie Herr zu werden und sie zu aktivieren, vollzog der Dienst dann, wie die Forscher in ihrem Buch schreiben, um 2013 den "curatorial turn" - die Wende hin zur algorithmisch und/oder menschlich kuratierten Playlist, und damit: eine Wandlung vom Kulturbereitsteller zum Kulturproduzenten.
Was das Unternehmen als nächstes plant, wollte es nicht preisgeben
Seitdem ist der ideale Spotify-Nutzer eben nicht mehr der Musik-Fan, der ohnehin schon weiß, was er hören will und selbständig danach sucht. Es ist der Mensch, der sich gerne dabei helfen lässt, rund um die Uhr passende Musik zu hören und durch diese glücklicher, produktiver, ausgeschlafener, fitter zu werden. "Self-governance through mood control" nennen es die Forscher: Selbststeuerung durch Stimmungskontrolle durch die endlosen Playlists und sich an sie wiederum anschließenden neuen Vorschläge. Musik zum Einschlafen, zum Aufwachen, zum Joggen, zur optimalen Konzentration am Arbeitsplatz. Hat das noch irgendetwas mit Pop zu tun, im Sinne eines eben auch mal widerständigen, selbstverschwenderischen, extra-destruktiven, trotzigen, eskapistischen Musikkonsums?
Es fehlt vielleicht an historischer Distanz, um dies abschließend beurteilen zu können. Auch ein wissenschaftliches Buch kann diese Distanz nicht haben. Die Autoren schlagen keinen alarmistischen Ton an, aber doch einen kritischen. Ihnen ist dieses Unternehmen mit seinen monatlich knapp 200 Millionen Nutzern weltweit und seinen Zentralen und Briefkästen in Luxemburg, Zypern, Stockholm und New York einfach nicht ganz geheuer. Was sicher auch mit daran liegt, dass Spotify ihre Arbeit verhindern wollte.
Was könnte Spotify als nächstes planen? Spotify wollte den Autoren diese Frage nicht beantworten. Weshalb sie wiederum auf eine computerbasierte Methode zurückgriffen: Sie saugten so viele Stellenangebote von Spotify aus dem Internet, wie sie finden konnten, 563 an der Zahl. Bei deren Auswertung stellten sie fest, dass Spotify jüngst vor allem Experten für Künstliche Intelligenz gesucht hat. Sie werten es als Hinweis darauf, dass das Unternehmen in Zukunft noch viel stärker Musik-Erfahrungen algorithmisch erzeugen, steuern und vermarkten will. Sie gehen aber nicht so weit darüber zu spekulieren, ob Spotify mithilfe Künstlicher Intelligenz auch selbst Musik produzieren könnte. Neo-Gebrauchs-Muzak, etwa zur angenehmen Feierabendentspannung, lässt sich längst von Software komponieren. Spotify könnte so selbst zum Künstler werden, oder jedenfalls zur Plattenfirma, und so viele Lizenzgebühren sparen. "Musik + Mathe = super" lautet, wie die Forscher herausfanden, ein Slogan in der Spotify-Abteilung für maschinelles Lernen.