Der Soziologe Mario Rainer Lepsius, der am vergangenen Donnerstag im Alter von 86 Jahren gestorben ist, war einer der Großen seines Fachs, dessen Ideen vor allem die Historiker beeinflusst haben.
Selbst wer noch nie von ihm gehört hat, kennt seine Gedanken, sofern er beispielsweise Hans-Ulrich Wehler gelesen hat, den Historiker der deutschen Gesellschaft. Die Beschreibung von Hitlers Diktatur mit dem Charisma-Begriff von Max Weber wurde zuerst von Lepsius entwickelt.
Dabei wies er deutlicher als seine Nachschreiber darauf hin, dass der Glaube an den charismatischen Führer die Glaubensbereitschaft in der Gesellschaft braucht - also auch die moralische Enthemmung, das Aufgeben traditioneller Sittlichkeit, in den verschiedenen Milieus, die sich im Führerstaat zu einer Einheit verbinden.
Umgekehrt war die Demokratie in Deutschland vor dem Nationalsozialismus, so Lepsius, weniger an institutionellem Versagen gescheitert als an der Abschottung von Parteienmilieus, die koalitionsunfähig waren: Katholiken, Konservative, Arbeiterbewegung und Liberalismus bildeten keine Volksparteien, sondern weltanschauliche Lager, die keine Kompromisse eingehen wollten.
Die Weimarer Republik scheiterte auch an ihren "Verbänden". Der Führerstaat war ein Extremausschlag gegen übermäßige innere Spaltungen.
Mit diesen Diagnosen vermochte es der Soziologe Lepsius, den Sonderwegsthesen der Historiker begriffliche Klarheit und sozialhistorische Deutlichkeit zu geben. Wer dieses Land jenseits moralischer Sonntagsreden verstehen will, kommt um den 1993 erschienenen Sammelband "Demokratie in Deutschland" von Lepsius nicht herum.
Anrufe, spät in der Nacht
Seine Grundfrage nach der Verankerung von Demokratie und Parteileben in der Gesellschaft und ihren Milieus bleibt auf allen Ebenen erhalten, bis in die Europäische Union.
Mario Rainer Lepsius stammt aus einer alten Gelehrtenfamilie, die Karl Richard Lepsius, den Begründer der Ägyptologie, und Johannes Lepsius, den Kämpfer für das armenische Volk hervorgebracht hatte. Außerdem war er ein direkter Nachfahre des Berliner Aufklärers Friedrich Nicolai.
Seine wissenschaftliche Kärrnerarbeit verrichtete dieser urban und witzig auftretende Gelehrte als Herausgeber der kritischen Max-Weber-Ausgabe. Also war er ein Bürger, selbstbewusst im Mommsenschen Sinne, als politisches Wesen, aber auch in der deutschen Variante des Bildungsbürgers.
Wie das zusammenging, erlebte man als Journalist, wenn er einen spät in der Nacht anrief. Zwar ließ er durchblicken, dass er nicht allzu viel Respekt vor dem Beruf des so Aufgeschreckten habe, dann ging es zur Sache: Man solle etwas tun für die Rettung des Nicolai-Hauses oder gegen den unziemlichen Handel mit veruntreuten Manuskripten Max Webers.
Der Verschwörerton machte klar: Auch hier ging es um ein kulturelles Milieu und seine Anliegen - um Erbschaften, ohne die Demokratie nicht leben kann.