Eröffnung der Spielzeit am Residenztheater:Sechs Stunden Katastrophen

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Auf lange Sicht hat sich "Unsere Zeit" als Ensemblestück erwiesen. Viele haben hier schon mitgespielt, weil krankheitsbedingt jemand ausfiel. (Foto: Birgit Hupfeld)

Simon Stone inszeniert am Münchner Residenztheater sein Stück "Unsere Zeit". Es ist eine Feier der Bühnenkunst. Und eine große Mühsal.

Von Egbert Tholl, München

Die Theater haben einen Druck. Es muss viel nachgeholt werden. Auch in München. Am Samstag eröffneten dort die Kammerspiele ihre Saison mit einer mehrstündigen Romanadaption ( "Effingers", SZ vom 20. September), am Sonntag zog das Residenztheater nach. Mit "Unsere Zeit", einer Aufführung von sechs Stunden Dauer, inszeniert von Simon Stone, der dafür auch den Text schrieb. Sechs Stunden, für deren emotionalen und intellektuellen Ertrag die Hälfte der Zeit locker ausgereicht hätte. Aber dann hätte man nicht so viel Zeit mit den Menschen dort oben auf der Bühne verbracht. Darum geht es ja in quasi postpandemischen Zeiten: Einen Vierteltag in einem vollbesetzten Haus mit 16 Schauspielenden und 800 anderen (maskentragenden) Zusehenden zu verbringen, Gemeinschaft zu spüren, das Ensemble zu betrachten. Es ist eine Feier des Theaters. Und es ist eine große Mühsal.

"Unsere Zeit" besteht aus 300 Seiten, "frei nach Motiven von Ödön von Horváth". Doch muss man für die Rezeption des Textes kaum das Gesamtwerk des Autors verinnerlicht haben. Man muss überhaupt nichts von Horváth gelesen haben, um mitzukommen. Anders als etwa bei seiner Strindberg-Exegese "Hotel Strindberg" legt Stone hier keine interessanten Fährten, auf denen man sich in hermeneutische Abenteuer hineinbegeben könnte. Aus Horváths Welt bleibt die Erkenntnis, dass Menschen ein Glück suchen, es vielleicht finden, es ihnen wieder entgleitet. Und es bleibt die Erkenntnis, dass das Leben stets unter einem wirtschaftlichen Druck steht, der die Liebe zerstört und die Menschen. Aber um das zu wissen, braucht man Horváth auch nicht, man bräuchte ihn wegen des Gesangs seiner poetischen Sprache, aber den gibt es hier nicht.

Grauenhafte Schicksale: Julia (Liliane Amuat, rechts) wurde einst in Thailand vergewaltigt und arbeitet jetzt als Nutte, verliebt sich in Sophie (Massiamy Diaby), die eine Niere für ihren Frisörsalon verkauft. (Foto: Birgit Hupfeld)

Die Bühne ist grandios. Blanca Añón hat mit akribischem Realismus einen Tankstellenshop auf die Bühne gestellt, zwei Leinwände zeigen die Bilder der Überwachungskameras und damit das reichhaltige Sortiment - eigentlich könnte man die Produktion allein mit Werbeeinnahmen finanzieren. Tanken ist Nebensache, der Ort, gedacht an der Peripherie Münchens, ist Treffpunkt innerlich unbehauster Menschen, man kennt sich, trinkt Bier, isst Chips. Man denkt kurz an Georg Ringsgwandls "Tankstelle der Verdammten", aber dies hier ist keine "Schrottoper", sondern beinharter Realismus.

Die Schicksale der Figuren sind detailliert und grauenhaft. Aber auch banal in ihrer allumfassenden Geheimnislosigkeit

Simon Stone hatte die Uridee zu seinem Stück vor zwei Jahren, unermüdlich schrieb er weiter, auf Englisch. Seine Schwester in Australien, wo er selbst aufwuchs, übersetzte es ins Deutsche, bei den Proben versuchten dann die Schauspielerinnen und Schauspieler, die mitunter echt witzigen Texte mit ihrem eigenen Leben zu füllen. Es gibt drei Teile, jeweils etwa 100 Minuten. Im ersten werden die Figuren, deren Lebenswege alle ineinander verflochten sind, über banalste Alltagsreflexionen eingeführt, im zweiten bekommen ihre Geschichten mehr Fleisch an die Knochen, im dritten wird in einer Kette von Monologen jedes Leben auserzählt. Und damit jedes erdenkliche Schicksal, jedes einzelne grauenhaft. Aber der Schock der Realität all dieses Leids erzeugt keine Empathie, was an den Schauspielenden am allerwenigsten liegt.

Das Stück spielt zwischen 2015, der Ankunft der Flüchtlinge in München, und heute, aber die Geschichten der Figuren gehen weiter zurück. Yodit Tarikwa spielt mit fantastisch geradlinigem Selbstbewusstsein eine Menschenrechtlerin, die im Schrank überlebte, während ihre Familie beim Völkermord in Ruanda abgeschlachtet wurde; Nicola Mastroberardino ist ein schwermütiger Prophet des Untergangs, der seine Tochter einst im knallheißen Auto vergaß, woran sie starb; Oliver Stokowski ist der örtliche Polizist, der längst, ganz "Bad Lieutenant", sein Gehalt als Zuhälter aufbessert, die Ansprüche seiner Gattin waren daran einst schuld, jetzt hat er Krebs.

Die Männer sind lächerlich oder Versager, die Frauen geigen ihnen so richtig die Meinung. Dafür gibt's vom Publikum Applaus

Noch mehr gefällig? Julia (Liliane Amuat) wurde einst in Thailand vergewaltigt und arbeitet jetzt als Nutte, verliebt sich in Sophie (Massiamy Diaby), die eine Niere für ihren Frisörsalon verkauft. Hawal (Delschad Numan Khorschid) war im Irak Juraprofessor, jetzt verdingt er sich an der Tankstelle, will Schauspieler werden, weil es in "deutschen Ensembles eine Lücke für nichtweiße Leute" zu geben scheint. Thiemo Strutzenberger irrlichtert fabelhaft als schwuler Lkw-Fahrer herum, Max Rothbart spielt durchaus beklemmend einen Verschwörungstheoretiker, Frauenhasser, Neonazi, der am Schluss Amok läuft und das Personal empfindlich reduziert.

Die Männer sind lächerlich oder Versager, Simon Zagermann ein liebevoll bayrischer Trottel, der über "Me Too" stolpert, Michael Wächter ein in sich gefangener, zauderlicher Gatte. Das stimmt alles im Detail, aber es ist halt auch banal in seiner allumfassenden Geheimnislosigkeit. Alles wird abgehandelt, alles erklärt, die Frauen - Tarikwa, Barbara Horvath, Franziska Hackl - geigen den Männern so richtig die Meinung, im Publikum brandet Applaus auf.

Ja, das ist "unsere Zeit". Aber die ist auch anders. Ob sechs Stunden Reality-TV mit Maskenzwang das leicht entwöhnte Publikum ins Theater locken, wird man sehen.

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