Das Verführerische am kalifornischen Blick auf die Welt ist das Gefühl, dass die Möglichkeiten immer noch unbegrenzt sind. Im amerikanischen Westen gibt es genügend Menschen, die daran arbeiten, die Menschheit auf dem Mars anzusiedeln, Tropenkrankheiten auszurotten oder wenigstens den Berufsverkehr staufrei zu machen.
Spricht man mit ihnen, dann begegnet man Männern (eher selten auch Frauen), die aus tiefstem Herzen glauben, dass sie auserwählt sind, um diese Welt zu einer besseren zu machen. Immerhin haben sie es mit ihren Technologien und Unternehmen aus eigener Kraft zu globaler Bedeutung und zu Macht gebracht. Vor allem aber haben sie geholfen, jenes Instrument zu entwickeln, das wie kaum eines zuvor dafür geschaffen ist, die Welt zu vereinen - das Internet. Effektive Weltverbesserung ist nur der logische nächste Schritt.
In dieser Auffassung vom Internet als Katalysator einer positiven Globalisierung stecken die gesellschaftlichen Utopien und Eine-Welt-Visionen der Hippie-Bewegung. Der Übergang von der Ära der Gegenkulturen zum digitalen Zeitalter war im amerikanischen Westen fließend. Ken Keseys subkultureller Wanderzirkus der Künstlergruppe Merry Pranksters und Timothy Learys LSD-Experimente waren frühe Einflüsse der Computerwelt im Aufbruch. Intellektuelle der Sechzigerjahre wie Stewart Brand, der das Hippie-Zentralorgan "Whole Earth-Catalog" herausgab, oder der Grateful Dead-Songschreiber John Perry Barlow sind heute noch zentrale Figuren im Silicon Valley und seinen Ausläufern.
Europa ist aus dieser Perspektive ein ferner, exotischer Ort. Unter den Palmen Kaliforniens und den Föhren des pazifischen Nordwestens ist es kaum nachzuvollziehen, warum sich die Menschen der alten Welt mit ihrer viel zu niedrigen Wolkendecke und ihren modrigen Altstädten so gegen den Fortschritt stemmen. Warum sie wissenschaftlich perfektioniertes Saatgut verbieten, mit ihrem Datenschutz den finanziellen Treibstoff der digitalen Industrie verknappen wollen und nun gegen Google wegen Wettbewerbsverzerrung eine mit 2,42 Milliarden Euro historisch saftige Geldstrafe verhängten, nur weil der Konzern seine Stärken nutzte.
Besucht man die Welt des neuen Denkens, spricht man mit ihren Vertretern, kann man sich von der Euphorie leicht anstecken lassen. Das hat damit zu tun, dass man in aller Regel auf Menschen trifft, die abseits der hierarchischen Wege durch Leistung und Ideen zu Welterfolgen gekommen sind. Zudem blendet man in der Regel den jüngeren Teil der Geschichte aus, in der das Internet kein Motor der Utopien mehr ist, sondern eines radikalen Freiheitsbegriffes, der nur noch wenig mit den Menschen und sehr viel mit den neuen Strukturen zu tun hat, die diese Welt bestimmen. Was in den späten Achtzigerjahren als Instrument eines hehren Weltgeistes begann, ist längst ein Netzwerk mit doch eindeutiger Machtzentrale.
Es war im Juni vor vier Jahren, als Edward Snowden mithilfe von Journalisten begann, eine große Menge Daten des amerikanischen Geheimdienstes auszuwerten. In den folgenden Wochen begriff die Welt, dass das Internet nach wie vor ein amerikanisches Netz ist, das Amerika keineswegs der unsichtbaren Hand des Ideenaustausches und Wettbewerbes überlassen hat. Und dieses Netz wird von amerikanischen Geheimdiensten, vor allem aber von der amerikanischen Digitalindustrie kontrolliert.
Bleibt man bei den frühen Vergleichen des Internets mit der Antike, die das Netz als eine Art globale Bibliothek von Alexandria priesen, so hatten Geheimdienst und Konzerne es in eine virtuelle Tabula Peutingeriana verwandelt, jene Karte der Römerstraßen, die alle Welt nutzen konnte, die jedoch immer unter der Kontrolle und im Dienste der Weltmacht stand.
Der Bruch mit den Idealen der digitalen Frühzeit vollzog sich kurz nach dem Beginn des neuen Millenniums. Konzernchefs wie Peter Thiel, Elon Musk und die sogenannte "Paypal Mafia" schufen mit ihrem neuen Bezahlsystem im Netz die Ausgangsbasis, um als Investoren die digitalen Industrien der amerikanischen Westküste zu neuen Gipfeln zu treiben.