Digitale Öffentlichkeit:Wie aus Transparenz unbemerkt Zensur wird

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Die extreme Personalisierung digitaler Angebote macht aus dem Smartphone einen Spiegel der eigenen Persönlichkeit (Foto: Rodion Kutsaev)

Digitale Vernetzung führt nicht automatisch zu mehr Diversität. Vielmehr unterwirft sich der gläserne Bürger selbst Konformitätserwartungen und verschreibt sich einer neuen Unauffälligkeit.

Gastbeitrag von Emmanuel Alloa

Im deutschen Grundgesetz steht es Schwarz auf Weiss: "Eine Zensur findet nicht statt." Was nicht die Staatssicherheit oder die Jugend gefährdet, darf unzensiert diskutiert werden. Kein Thema, das der öffentlichen Meinung vorenthalten würde. Soweit zumindest die Theorie. Denn tatsächlich zeichnet sich auch eine als demokratisch definierende Mediengesellschaft durch einschneidende Ausschlussmechanismen aus. Das Versprechen, die digitale Vernetzung würde automatisch zu mehr Diversität - und damit zu einem akkurateren Gesamtbild - führen, erwies sich als Fehlschluss. In Wirklichkeit führt gerade der gesteigerte Kommunikationszwang zu neuen Uniformierungsbewegungen und, mittelbar, zu neuen Formen der Zensur.

Phänomene wie das Brexit-Referendum oder die amerikanische Präsidentschaftswahl haben unlängst vor Augen geführt, dass der Traum der aufgeklärten digitalen Öffentlichkeit, von der die frühen Netzpioniere träumten, zerplatzt ist. Tatsächlich besteht der vermeintlich durchlässige Raum der Internet-basierten Öffentlichkeit in Wirklichkeit aus unzähligen Filterblasen. Die Blasen suggerieren zwar Durchblick, sind aber schalldicht: als Echo kommen nur solche Meinungen zurück, die schon vertraut sind, andere dringen gar nicht erst durch. Schuld daran ist nicht zuletzt die extreme Personalisierung digitaler Angebote. Suchverläufe geben mit hoher Zuverlässigkeit Aufschluss über Interessen und Neigungen, mittels statistischer Prognostik werden Themenpräferenzen ermittelt, welche vermutete Interessen der Rezipienten mit entsprechenden empfohlenen Inhalten verknüpft werden. Der Algorithmus zeigt nur solche Ergebnisse an, die auch gefragt sind.

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Dass Algorithmen keineswegs nur eine kritischere, durchlässigere Gesellschaft befördern, sondern die sogenannte cognitive insularity nachgerade unterstützen, ist alles andere als neu. Im Namen gesellschaftlicher Transparenz fordern Netzaktivisten bereits seit langem, dass die Anbieter Einblicke in ihre Black Box gewähren.

Das Offenlegen verdeckt gehaltener Algorithmen löste die Probleme nicht

Nun würde das Offenlegen verdeckt gehaltener Algorithmen das Problem allerdings nicht lösen, sondern allenthalben verschieben: Schon jetzt gleicht die Suchmaschinenoptimierung einer Art digitalem Lobbyismus, bei der Kriterien wie Relevanz oder Wahrheit außen vor bleiben. Damit würde die Kontrollstellung monopolistischer Algorithmen zwar zerschlagen, die konkurrierenden Informationsanbieter wären darum aber noch lange nicht im Auftrag der Öffentlichkeit unterwegs.

Was für Suchmaschinen gilt, lässt sich auf digitale Datenanbieter allgemein erweitern. Der Zwang, immer feingliedrigere, individuell abgeglichene Angebote liefern zu können, führt zu einer einseitig verzerrten Wahrnehmung. Öffentlichkeit verkommt zur Fassade, die vermeintliche Öffnung durch als "sozial" definierte Netzwerke entspricht nicht selten einer Abnabelung in der eigenen Echokammer.

Facebook etwa bietet jedem Nutzer ein anderes Angebot an Informationen, wobei Meldungen von solchen Quellen und Personen bevorzugt werden, mit denen die Nutzer am häufigsten interagieren. Unter Pluralismus ist dann nicht mehr der Umstand zu verstehen, dass eine Sache - etwa die Res publica - aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden kann, sondern dass eine Vielfalt nebengeordneter, voneinander unabhängiger Kommunikationsblasen bestehen, die ihren jeweils eigenen Wahrheitsbegriff beanspruchen. Die Hoffnung, das Internet verwirkliche den alten Traum eines herrschaftsfreien Raums, in dem nur der "Zwang des besseren Arguments" herrsche, hat sich zerschlagen.

Anders als vielfach angenommen, wird das Zeitalter der Zensur keinesfalls von einem Zeitalter der Transparenz beerbt. Transparenz löst die klassische Zensur nicht etwa ab, sondern stellt eine neue, besonders wirksame - weil unbemerkte - Form von Zensur da.

Zwar ist die strenge Sittenwacht eine Sache der Vergangenheit, dafür betreten neue Spielarten der Kontrolle das Feld. Die Filterinstanzen werden nicht mehr von einer zentralisierten Staatsmacht verhängt, sondern stellen sich als Ergebnis eines algorithmischen Informationsgitters heraus, welches nur noch solche Informationen zulässt, die dem Endnutzer als wünschenswert gelten. Anders als das politische Arkanum steht das Subjekt allerdings selbst unter Offenbarungszwang: Soziale Medien sind in erster Reihe Subjektivierungsräume, in denen Individuen dazu angehalten werden, sich selbst durchsichtig zu machen. In erster Linie gleicht die Beteiligungsdemokratie daher einer Kultur der narzisstischen Selbstdarstellung, in der das Selbst unter Geständniszwang steht.

"Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten", so das Mantra im Transparenzdiskurs, und dieser Logik entsprechend gilt es durch fortwährende Selbstenthüllung unter Beweis zu stellen, damit kein Winkel unausgeleuchtet bleibt. Der freiwillige Anschluss der Individuen an Kommunikationsnetzwerke wird durch mechanisierte Reizbestätigung unterhalten. Doch zugleich besagt das transparentistische Mantra, dass es nichts geben soll, was es zu verbergen gäbe.

Die Datenspuren, die jeder Netz-Nutzer hinterlässt zementieren seine Identität

Das Wissen um Massenüberwachung führt zu neuen, flächendeckenden Formen der (Selbst-)zensur: in vorauseilendem Gehorsam fügt sich der gläserne Bürger mutmaßlichen Konformitätserwartungen und verschreibt sich neuen Imperativen von Unauffälligkeit. Der Hypertransparenz, die sich auf der einen Seite breit macht, steht eine immer umfangreichere Blindheit auf der anderen entgegen.

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Worin diese spätmoderne Gestalt der Zensur besteht, das erschließt sich am Besten im Rückspiegel der Geschichte. Die neue Öffentlichkeitssteuerung knüpft wieder an die Anfänge der Zensur an, die nämlich in römischer Zeit mit der Institution des Census verbunden war. Aufgabe der Magistraten des Census war es nicht, zuzulassen oder zu verbieten, sondern Informationen über Individuen einzuholen und deren Verhalten dadurch indirekt zu lenken, dass diese Informationen öffentlich zur Schau gestellt wurden. Für eine Wiedereinführung eines solchen Amtes wirbt im 16. Jahrhundert der Staatstheoretiker Jean Bodin.

In seinen Sechs Büchern über die Republik schlägt Bodin vor, dass die Pflicht der Informationserhebung auf alle Bürger übertragen wird, die sich damit nun gegenseitig überwachen sollen: "Wenn man einwendet, es sei nicht gut, wenn man in der Kaufleute Handel, Wandel und Geschäfte Einblick gewänne, die ja nicht selten in Schriftstücken und Schulden ihren Niederschlag finden, und wenn es heißt, es sei auch nicht gut, die Geheimnisse der Geschlechter und Familien zu lüften, so entgegne ich dem, daß es nur Betrüger, Falschspieler und solche, die andere mißbrauchen, sind, die sich dagegen wehren, daß man ihr Spiel aufdeckt, von ihren Machenschaften erfährt und ihre Vergangenheit entdeckt. Rechtschaffene Menschen dagegen, die das Licht nicht scheuen, werden immer ein Wohlgefallen daran haben, daß man sich ein Bild macht von ihrem Stand, ihrer Stellung, ihrem Vermögen und ihrem Lebenswandel."

Bodin fügt dann noch eine Anekdote hinzu, die aus einer römischen Quelle aus der frühen Kaiserzeit überliefert ist: "Zu dem Tribunen Drusus sagte einmal ein Baumeister, er werde ihm sein Haus so bauen, daß niemand ihn darin sehen könne. Darauf antwortete Drusus: 'Ich bitte dich im Gegenteil inständig, so zu bauen, daß man von allen Seiten sehen kann, was ich in meinem Haus tue'! Velleius Paterculus, der uns diese Geschichte berichtet, bemerkt denn auch, dieser Mann sei 'sanctus et integer' gewesen." Diese Moralisierung des Verhaltens, auf die Bodin abhebt, hängt nicht umsonst mit einer bestimmten Konzeption von Integrität zusammen, die von einer statischen Konzeption von Subjektivität zeugt. Heute lässt sich dieser Sachverhalt anschaulich nachempfinden: Aufgrund der immensen Datenspuren, die jeder Nutzer nolens volens hinterlässt und die auch kein "Recht auf Vergessen" jemals endgültig wird löschen können, wird eine Identität zementiert, für die ein Individuum lebenslang Haftung übernehmen muss.

Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Der Ausweis dieser neuen Formen der Zensur soll keiner Forderung nach dem Ende jedweder Zensur Vorschub leisten. Eine von jeder zensorischen Instanz freie Gesellschaft käme einer Schimäre gleich, greifen doch in jeder Kultur, wie Sigmund Freud zeigen, bestimmte "zensorischer Instanzen". Dass jede Öffentlichkeit ihren toten Winkel hat sollte vielleicht weniger Grund zur Besorgnis geben als die Tatsache, dass nur einige wenige die Winkelöffnung bestimmen. Gefordert ist ein kritischeres Bewusstsein im Medienumgang. Soviel steht fest: Transparenz stellt keinen Ersatz für freie Rede dar und ist schon gar kein Gütesiegel für eine kritische Auseinandersetzung.

Der Autor ist Philosoph und arbeitet an der Universität St. Gallen. Zuletzt erschien von ihm "Resistance of the Sensible World" (New York, Fordham 2017).

© SZ vom 27.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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