Theater-Festival FIND:Dazu brauchen wir das Theater

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Robert Lepage hat sein Meisterwerk "The Seven Streams of the River Ota" aus den Neunzigern reanimiert. Es hat nichts von seiner Kraft verloren. (Foto: Elias Djemil)

Andere Theaterfestivals wirken schrullig und streberhaft - das FIND der Berliner Schaubühne aber macht ein Fenster zur Welt auf.

Von Peter Laudenbach

Das FIND-Festival der Berliner Schaubühne ist schon länger das lebendigste, kraftvollste, schönste Theaterfest Berlins: Hier geht ein großes Fenster zur Welt und zum Welttheater auf - in diesem Jahr zum Beispiel mit Robert Lepages großartiger kanadischer Compagnie Ex Machina. Neben diesem frischen Luftzug und dem Blick in die Weite wirkt zum Beispiel das Berliner Theatertreffen mit seiner immer schrulliger werdenden Auswahl doch recht provinziell und etwas zu angestrengt trend-streberhaft. Im vergangenen Jahr sorgte FIND mit Gastspielen der spanischen Hardcore-Performerin Angélica Liddell für das dringend nötige Theater-Gegengift zur Corona-Depression. In diesem Jahr lautet die bedrückende Frage: Was kann ein Theaterfestival schon ausrichten, wenn gar nicht so weit weg Städte bombardiert und Zivilisten massakriert werden? Wie soll man sich jetzt noch am Bühnengeschehen freuen?

Die Antworten des Theaters sind, wie immer bei FIND, erfreulich heterogen und etwa so unterschiedlich wie die Länder, aus denen die Gastspiele kommen. Und ziemlich oft verlässt man die Schaubühne berührt und, naja, getröstet, weil man in den ein, zwei oder sieben Stunden einer Vorstellung erstaunlichen Menschen - und Wahrheiten darüber, was das ist: ein Mensch - begegnet ist. In der minimalistischen französisch-schwedischen Inszenierung "L'Aventure invisible" (Regie: Marcus Lindeen) kann man Menschen zuhören, die sich nach einem Schlaganfall mit schweren Gehirnschäden oder nach der Transplantation ihres Gesichts neu in ihrem Leben und ihrer Identität zurechtfinden müssen. In der schrillen chilenischen Performance "Oasis de la Impunidad" (Regie: Marco Layera) sieht man, wie Menschendressur funktioniert und Schlägertypen im Dienst einer autoritären Regierung geformt werden. Allerdings wirken die grotesken Schockbilder eines Gebrauchssurrealismus dabei etwas beliebig.

Es geht um offene Gewalt gegen Schwarze, aber auch um das "Vermächtnis des Selbsthasses"

Die in Paris lebende, aus einer Familie vietnamesischer Einwanderer stammende Regisseurin Caroline Guiela Nguyen kann mit ihrem ein wenig konfusen, schauspielerisch erstaunlich schwachen Dystopie-Szenario "Fraternité, Conte fantastique" leider nicht an den Erfolg ihres völlig zu Recht gefeierten FIND-Debüts "Saigon" von 2018 anknüpfen. Die beiden wichtigsten, in jeder Hinsicht bewundernswerten Gastspiele kommen aus Nordamerika: Der Kanadier Robert Lepage, seit Jahrzehnten einer der großen Regisseure des Welttheaters, zeigt mit seiner Compagnie Ex Machina das verschlungene, dabei glasklar erzählte Epos "The Seven Streams of the River Ota".

Beeindruckende Persönlichkeit: Dael Orlandersmith setzt sich in ihrem Solo "Until the Flood" mit Rassismus und Polizeigewalt auseinander. (Foto: Joey Moro)

Aus St. Louis im US-Bundesstaat Missouri kommt die One-Woman-Show "Until the Flood" der klugen, kraftvollen, wütenden Autorin und Solo-Performerin Dael Orlandersmith. Ihr gelingt eine vielstimmige Auseinandersetzung mit Rassismus und Polizeibrutalität in einer Härte, Genauigkeit, Differenzierung, die aus dem 70-Minuten-Monolog eine komprimierte soziologisch-menschliche Studie der Konfliktlinien einer von Diskriminierung und Gewalt vergifteten Gesellschaft macht.

Vor der kleinen Podestbühne sind Kerzen, Blumen, Stofftiere und Protestplakate aufgestellt, ein Gedenkort für den 2014 in Ferguson, Missouri von einem weißen Polizisten aus nichtigem Anlass erschossenen schwarzen Teenager Michael Brown. Dael Orlandersmith, eine beeindruckende Bühnenerscheinung, arbeitet sich durch acht kurze Monologe, acht knapp skizzierte Kurzportraits schwarzer und weißer Bewohner Fergusons, die versuchen, diesen Mord zu verarbeiten, jede und jeder auf unterschiedliche Weise: der weiße Polizist, der in breitem Südstaaten-Akzent klar macht, für ihn sei jeder Cop sein Bruder, egal ob schwarz oder weiß. Der aufgekratzte schwarze Teenager voller Wut, der an manchen Tagen am liebsten jeden weißen Polizisten anbrüllen würde, dass er ihn doch einfach erschießen soll.

Ein weißer Elektriker, der sich aus der Unterschicht zu bescheidenem Wohlstand hochgearbeitet hat und sich lustvoll ausmalt, Schwarze zu ermorden, so wie in Auschwitz beim Appell Juden erschossen wurden, ein breitbeiniger Rassist. Eine ältere Schwarze, eine frühere Lehrerin, müde, nachdenklich, voller Würde, die ihr ganzes Leben lang Rassismus erlebt hat und sich fragt, was nicht nur die offene Gewalt, sondern auch das "Vermächtnis des Selbsthasses" den Menschen antut.

"The Seven Streams of the River Ota" bedient sich der Stilmittel des japanischen Theaters und führt von Hiroshima 1945 bis zur Jahrhunderwende in New York. (Foto: Elias Djemil)

Erzählt Dael Orlandersmith davon, was der rassistische Hass in den Menschen und der Gesellschaft anrichtet, handelt Robert Lepages Epos "The Seven Streams oft the River Ota" vom Wunsch nach Versöhnung und Frieden. Und es handelt von der Scham über ein Kriegsverbrechen, dem Atombombenabwurf über der japanischen Stadt Hiroshima. Damit beginnt der Abend: Ein kleines Mädchen erblindet beim Blick in den Atomblitz. Am Ende werden wir sie als alte Frau sehen, ihr ganzes Leben ist von diesem Blitz in ihrer Kindheit geprägt. Lepages Inszenierung ist eine amerikanisch-japanisch-kanadische-europäische Zeitreise über mehrere Generationen, von Hiroshima 1945 und vom deutschen Konzentrationslager Theresienstadt über das Boheme-New York der 1960er-Jahre bis zur Jahrhundertwende. Die Menschen auf dieser Reise sind vielfältig miteinander verbunden, aber alle versuchen irgendwie mit den Echos und Spätfolgen des Krieges zurecht zu kommen. Die Undergroundkünstlerin, der wir im Beatnik-New York begegnen, war als Kind im Konzentrationslager, im Alter wird sie zu einer buddhistischen Nonne - ein langer Weg zur Heilung ihrer schrecklichen Kindheit. Ein amerikanischer Soldat, der im Auftrag der Armee die Folgen des Atombombenabwurfs dokumentieren soll, verliebt sich in eine Japanerin und kehrt nach Texas zurück. Jahre später sucht der Sohn des GI und der Japanerin in New York seinen Vater und begegnet dem eigenen Halbbruder.

Lepages filmische und sehr direkte Erzählweise, seine liebevollen, genauen Figurenzeichnungen, der epische Atem der siebenstündigen Inszenierung machen sie zu einem Meisterwerk. Seit der Uraufführung Mitte der 1990er-Jahre hat es nichts von seiner Kraft verloren. "Menschliches Theater", sagt eine Besucherin, das trifft es genau. Und es beschreibt, weshalb wir Lepages menschliches Theater derzeit so dringend brauchen.

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