Sancaklar-Moschee in Istanbul:Der Architekt kann kein Türke sein

Lesezeit: 4 min

Die Sancaklar-Moschee: So viel Understatement wie Emre Arolat hat noch kein Architekt eines modernen Sakralbaus in Istanbul gewagt. (Foto: Sibel Bulay)

Keine bunten Kacheln, kein bunter Teppichboden - so viel Understatement traut sich in Istanbul keiner: Jetzt hat der Architekt Emre Arolat eine Moschee gebaut, die fast komplett unter der Erde liegt. Der Bau ist nicht nur ein Gegenbeispiel zur üblichen Prunkarchitektur. Er ist auch ein Wagnis.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan wünscht sich eine neue Moschee in Istanbul, die man von allen Seiten sehen kann. Deshalb soll sie, dem Himmel so nah wie möglich, auf dem höchsten Hügel an den Ufern des Bosporus entstehen. Emre Arolat hat dagegen eine Moschee gebaut, die man erst einmal gar nicht sieht, weil sie sich fast komplett unter der Erde befindet. So viel Understatement hat noch kein Architekt eines modernen Sakralbaus in Istanbul gewagt, weshalb Besucher des ungewöhnlichen Gebetshauses meist annehmen, dessen Schöpfer könne unmöglich ein Türke sein.

Um die Sancaklar-Moschee zu finden, muss man vom Istanbuler Zentrum bis an den äußersten westlichen Stadtrand reisen, nach Büyükçekmece. Je nach Verkehrsmittel und Staulage dauert das zweieinhalb bis vier Stunden. Die letzten Kilometer fährt man durch Gewerbegebiete, Restweideflächen und Zonen kamerabewehrter umzäunter Villen und Apartmentanlagen. In diesen Refugien mit Phantasienamen wie "Toskana Vadisi" (Toskana Tal) lebt eine wohlhabende Mittelschicht.

Der viereckige Turm aus grauem Stein fällt erst gar nicht auf, weil er an Industriearchitektur erinnert. Auch bei der ersten Annäherung ist der schlanke Campanile nicht als Minarett zu erkennen. Nur wer direkt davor steht und nach oben blickt, entdeckt den arabischen Schriftzug: Allahu akbar. Gott ist groß. Mehrfach gestaffelte Mauern schirmen das Moschee-Gelände von der Straße ab. Diese wirken aber nicht wie eine Abgrenzung, sondern eher wie eine Einladung zu entdecken, was sich hinter den grauen Natursteinwällen befindet.

Sancaklar-Moschee in Istanbul
:Wider Erdoğans Prunk

In Istanbul hat der Architekt Emre Arolat eine Moschee unter die Erde gebaut. Der Bau widerspricht der Architektur, die Premier Erdoğan schätzt.

Erst dort wird deutlich, dass man sich auf der Kuppe eines Hügels befindet. Der Weg führt nun hinab über Steinstufen durch Blumen- und Kräuterwiesen. Das erinnert an die terrassierten Hänge, auf denen andernorts am Mittelmeer Obst und Oliven gedeihen, zumal auch hier ein einsamer, sehr alter Ölbaum wächst. Nur lieblich ist in diesem Ambiente nichts, der graue Stein sorgt für Strenge, ohne kalt zu wirken. Steinbecken mit fließendem Wasser schaffen die Illusion einer Gebirgslandschaft, ohne jeden Anflug von Kitsch.

Türkische Gebetshäuser sind wenig frauenfreundlich

Die größte Überraschung zeigt sich dann unter der Erde. Der Moschee-Raum ist von bestechender Schlichtheit und Eleganz. Es gibt keine bunten Kacheln, keinen gemusterten Teppich, keine Lüster und auch sonst keine Dekoration. Einziger Schmuck ist eine hell leuchtende Sure auf einer Seitenwand aus schwarzem Glas. "Sei glücklich mit wenig", liest der Imam der Sancaklar Camii, Ali Elmaçi, aus dem geschwungenen arabischen Schriftzeichen. Es könnte kaum ein besseres Motto für diese Moschee geben. Zentrales Element ist die kahle lange Stirnwand, sie wird nur durch einen Spalt unterbrochen, aus dem von oben natürliches Licht fällt. Das ist der Mihrab, die Gebetsnische, die gen Mekka zeigt.

Der gesamte Raum fällt in Stufen nach unten ab, sodass alle Betenden einen Blick auf den Imam haben. Das gilt auch für die Frauen, die sich sonst in der Türkei meist mit einem abgelegenen Gebetszimmer zufriedengeben müssen. Der Architekt aber hat den Frauen eine Empore gebaut, auf der sie vor den Blicken der Männer geschützt sind, jedoch freie Sicht auf das Geschehen haben.

Ein heller Teppichboden unterstreicht die Schlichtheit des fast 700 Quadratmeter großen Moschee-Raums, der zur Meditation und Versenkung einlädt. Die Decke aus hellem Beton lastet nicht wie ein Deckel obendrauf. Sie wirkt so leicht, als habe jemand mit einer Schere ovale graue Kartonstücke zurechtgeschnitten. Natürliches Licht reicht aus, den ganzen Unter-Tage-Bau zu erhellen. Nachts nutzt man LED.

Der 43-jährige Imam erzählt, Arolat habe sich von der Höhle Hira inspirieren lassen. In dieser Höhle hatte Mohammed, der Prophet, die erste Offenbarung erhalten. Einsam und abgeschottet von der Außenwelt verbrachte er dort Tage. Die gebaute Botschaft lautet: So zurückhaltend wie dieses Gotteshaus, so bescheiden soll auch der Mensch vor Allah werden. Dem Islam, erläutert der Imam, sei auch der Respekt vor der Natur wichtig. Während der Pilgerfahrt nach Mekka dürften die Gläubigen nicht mal einen Grashalm ausreißen. Daher ist diese Moschee gleichsam in ihre natürliche Umgebung versenkt worden, etwa neun Meter tief. Und auch den Wildkräutern darum herum wurde kein Halm gekrümmt.

So viel Nachsicht mit der Natur ist selten in Istanbul. Die Stadt ächzt unter dem Druck von Großbauprojekten, die von der Erdoğan-Regierung meist ohne Rücksicht auf den Widerstand von Umweltschützern oder auf mahnende Gerichtsurteile vorangetrieben werden. Auch deshalb wirkt die Moschee von Büyükçekmece wie ein stilles Ausrufezeichen. Auf dem World Architecture Festival 2013 wurde Arolat, der zu den wenigen namhaften Architekten der Türkei gehört, für das "beste religiöse Bauwerk" ausgezeichnet. Bei dem Wettbewerb in Singapur traten immerhin 267 Projekte aus 42 Ländern in 29 Kategorien gegeneinander an.

Die Sancaklar-Moschee von außen: Die Kritiker vermissen Üppigkeit und Glanz, die Bewunderer staunen über die Schönheit des Schlichten. (Foto: Cemal Emden)

In der Türkei ist der außergewöhnliche Sakralbau umstritten. Es gibt Lobeshymnen wie Kopfschütteln. Die Kritiker vermissen Üppigkeit und Glanz, die Bewunderer staunen über die Schönheit des Schlichten. Arolat sagt, er habe bewusst darauf verzichtet, traditionelle Symbole zu verwenden oder alte Formen zu kopieren. Letzteres, eine Art neo-osmanische Prunkarchitektur, strebt Erdoğan an mit der Großmoschee auf dem Çamlıca-Hügel über dem Bosporus. Die zwei Gewinnerinnen des Architekten-Wettbewerbs haben ihren Entwurf stark an der 1616 fertiggestellten Blauen Moschee orientiert. Sechs Minarette, jeweils mehr als 100 Meter hoch, sollen den Bau flankieren. Die Istanbuler Architektenkammer hat versucht, das pompöse Projekt, das alle anderen Moscheen überragen wird, zu stoppen - bislang vergeblich.

Arolats erste Moschee

Arolat, 1963 in Ankara geboren und in Istanbul aufgewachsen, stammt aus einer Architektenfamilie. In seinem Büro in Istanbul sind circa 100 Mitarbeiter tätig. Unter der Verantwortung von Emre Arolat Architects (EAA) sind Museen, Shopping-Malls, die türkische Botschaft in Prag, ein Flughafen, Hotels und private Residenzen entstanden, aber zuvor noch keine Moschee. Wie viele islamische Gebetshäuser wurde auch die Sancaklar Camii von einer Stiftung finanziert, hinter der eine erfolgreiche Industriellenfamilie steht. In diesem Fall trägt sie den Namen Sancak.

Moscheen sind gewöhnlich nicht zur Abschottung von der Außenwelt gedacht, sie sind gemeinschaftliche Versammlungsorte und bieten auch Raum für soziale Aktivitäten. Sie dienen traditionell nicht nur dem Gebet, sondern ebenfalls dem Wissenserwerb. Auch in der Sancaklar Camii gibt es eine Bibliothek und einen Versammlungsraum. Aber keinen Supermarkt, wie sonst bei vielen neuen Moschee-Komplexen üblich.

Arolat sagt, die prunkvollen Istanbuler Moscheen passten in die Zeiten der Sultane, aber nicht mehr ins 21. Jahrhundert. Die osmanischen Herrscher demonstrierten ihre Macht mit prachtvollen Bauten, die auch die Kraft des Islam verkörpern sollten. Es gab große Moschee-Baumeister, wie den um 1490 in Kappadokien geborenen Sinan, der als einer der größten Architekten aller Zeiten gilt. Sinan, der Erneuerer, hatte einen untrüglichen Sinn für Proportionen. Seine Werke beeindrucken bis heute durch ihre erhabene Gestalt, die Dekoration tritt dahinter zurück.

Die Sancaklar Camii ist ein gebautes Wagnis, weil sie auf die Essenz eines religiösen Ortes vertraut: Versenkung statt Ablenkung, Abstraktion statt Anschauung. Sie dürfte auch zur Pilgerstätte für Architektur-Enthusiasten werden.

© SZ vom 06.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: