Es ist eine denkwürdige Aufführung, künstlerisch fabelhaft, bewegend und auch ein Manifest des Widerstands der Kunst gegen die Unbill der Zeit. Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert Benjamin Brittens "War Requiem" zum Beginn der einwöchigen "Ouverture spirituelle", dem zum Nachdenken anregenden Vorspiel der Salzburger Festspiele. Ursprünglich war vorgesehen, dass die Dirigentin dafür mit "ihrem" Orchester, dem City of Birmingham Symphony Orchestra und dem dazugehörigen Chor anreist. Doch dann mussten Chor und Orchester wegen der verpflichtenden Rückreise-Quarantäne in England absagen, man suchte ein neues Orchester und fand es zehn Tage vor dem Konzert auf abenteuerliche Weise: Das Gustav-Mahler-Jugendorchester sammelte aus 18 europäischen Ländern 91 seiner Mitglieder zusammen, das ORF-Radio-Sinfonieorchester steuerte weitere 13 bei, der Wiener Singverein sagte den Urlaub ab und kam mit mehr als 100 Sängerinnen und Sängern. Und wie so oft, wenn ein Konzert ungeplant, unabgesichert und mit deshalb heißem Willen vorbereitet wird, wird es danach großartig.
Am Abend des 14. November 1940 zerbombte die deutsche Luftwaffe die englische Stadt Coventry, der Angriff trug den Codenamen "Operation Mondscheinsonate". Zur selben Zeit spielte Elly Ney Beethovens gleichnamiges Stück, der Reichssender Berlin übertrug es. Coventry ist nicht nur Symbol für den Terror des Luftkriegs gegen zivile Ziele, es ist auch ein bizarres Beispiel für einen pervertierten Umgang mit Kunst. Die Ruine der 500 Jahre alten Kathedrale Coventry blieb als Mahnmal stehen. Daneben wurde ein Neubau errichtet, für dessen Einweihung 1962 Benjamin Britten sein "War Requiem" komponierte.
Selbst für den Laien ist alles, was sie macht, unmittelbar einleuchtend
Dieses ist ein großformatiges Bekenntniswerk, ein Oratorium für den Frieden, überkonfessionell, obwohl sich Britten der lateinischen Totenmesse bedient. Drei Sphären: das eigentliche Requiem für Chor, Sopran und großes Orchester; Vertonungen von Gedichten des im Ersten Weltkrieg gefallenen Wilfred Owen für Tenor, Bariton und Kammerorchester; ein Knabenchor mit Orgel wie eine transzendentale Klangerscheinung. Das zu organisieren, noch dazu in dem Riesenraum der Felsenreitschule, ist schon eine Aufgabe, wenn man mit den Ausführenden sehr vertraut ist. Doch die Ad-hoc-Konstellation schreckt Gražinytė-Tyla offenbar nicht.
Das Orchester in dieser Besetzung ist ein herrlich junger Anblick, und Mirga Gražinytė-Tyla, geboren 1986 in Vilnius, wirkt wie ein Teil davon. Sie ist eine mädchenhafte Erscheinung, sehr zart, außerordentlich munter, dezidiert freundlich. Da kommt jemand ans Pult, der einfach mit mehr als 200 Menschen zusammen Musik machen will, ohne jede Genie-Attitüde, die man wohl doch eher bei männlichen (älteren) Kollegen findet. Und sie dirigiert wunderschön. In ihren Bewegungen, durchaus weit ausholend, glaubt man allein schon die Musik zu hören. Selbst für den Laien ist alles, was sie macht, unmittelbar einleuchtend.
Britten lotet, in durchaus schroffen Harmonien, in seinem Werk die Möglichkeiten der Dynamik aus. Vieles grummelt fahl und grau an der Grenze der Hörbarkeit entlang, dann wieder öffnen sich riesige Klangräume, teils überfallartig bis in den Lärm hinein, teils in langen, elastischen Steigerungen. Mirga Gražinytė-Tyla gelingt das Kunststück, das alles auszukosten bis ins Extrem. Alle Beteiligten agieren dabei mit geradezu selbstverständlich wirkender Sicherheit, selbst der Salzburger Kinderchor, hoch oben irgendwo hinter dem Publikum positioniert, wird mit brillanter Perfektion eingepasst.
Doch Perfektion ist noch nicht Musizieren, und das kann Mirga Gražinytė-Tyla auch großartig. Das Bekenntnis Brittens wird zu einem alle Zuhörenden erfassenden, emotionalen Erlebnis, mit größter Eleganz werden die abwechselnden, unterschiedlichen Teile zu einem großen Gesamttableau zusammengefügt. Die Besetzung der Solisten entspricht (fast) Brittens Wunschidee des Abbilds der drei entscheidenden Parteien des Zweiten Weltkriegs: Die russische Sopranistin Elena Stikhina ist ein Klangerlebnis, der britische Tenor Allan Clayton eine Idealbesetzung für die Wiedergabe von Owens Lyrik, die von konkreten Schlachtenerlebnissen und dem Abbild von der inneren Zerstörung aller am Krieg Beteiligter kündet, der österreichische Bariton Florian Boesch (geboren in Saarbrücken) steht ihm souverän mit äußerster, bis ins Falsett entrückter Klangschönheit beiseite.
Salzburger Festspiele:Jeder Tusch ein Treffer
Im neuen "Jedermann" haben die Frauen die Hosen und Lars Eidinger die Unterhosen an. Eine runde Sache ist die Inszenierung aber nicht.
Am Ende ersehnen Boesch und Clayton die Ruhe eines ewigen Schlafs, der gesamte Apparat tobt um sie herum, bis das Tosen zu einem letzten "Amen" und einem einzigen, lang anhaltenden Ton gerinnt. Lange Stille. Tosender Applaus. Das Orchester feiert Mirga Gražinytė-Tyla auf selten so erlebte Weise. Ein Glück voller Dankbarkeit. In den Gassen draußen kann man danach noch Reste des Eröffnungsfest erleben. Irgendwo macht jemand Musik. Aber man will nichts mehr hören. Man will das Geschenk dieses Konzerts still nach Hause tragen.