Revue über Willy Brandt:Schneller als der Schmerz

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Andreas Hutzel als Willy Brandt und Timo Tank als Günter Guillaume spielen bei der Probe von "Willy Brandt - Die ersten 100 Jahre". (Foto: dpa)

Günter Grass wird als Willy-Bückling dem Spott preisgegeben, Helmut Schmidt tritt als hilfloser Opportunist auf und Kennedy singt: In Lübeck gelingt überraschend eine Pop-up-Revue über den ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt. Auch, weil aus Klischees Kurzweiligkeit entsteht.

Von Till Briegleb

Politikerbiografien auf der Bühne treffen selten irgendeinen Geschmack. Die drastische Verkürzung eines kontroversen Lebens, dargereicht als gehäkselter Szenensalat, kann schon vom Rezept her wenig mehr ergeben als Klischees. Die Umwandlung in ein Unterhaltungsformat lässt auch nur die Zutaten "pathetisch", "rührend", "albern" oder "peinlich" zu. Dazu kommt dann der reflexartige Wunsch der Dramaturgie, den Mensch hinter dem Politiker zu zeigen, was die Theaterspeise meist mit menschelndem Mimikry garniert. Und wenn dann noch Musik drübergegossen wird, ist das ungenießbare Kitschgericht à la Weltpolitik endlich ein verlässlicher Fall für die Müllrutsche.

Nun jährt sich Willy Brandts Geburtstag im Dezember zum hundertsten Mal, und was soll eine kleine Marzipanstadt in der norddeutschen Tiefebene, die nur zwei Nobelpreisträger hervorgebracht hat - Thomas Mann und Herbert Frahm, genannt: Willy - da anderes unternehmen, als ein Singspiel aufzuführen? "Willy Brandt - die ersten 100 Jahre" lautet der etwas rätselhafte Titel des Bühnenwerks von Michael Wallner, das er für Lübeck sowohl geschrieben wie inszeniert hat, und das am Freitag dort uraufgeführt wurde. Und zur großen Erleichterung des Publikums war der österreichische Regie-Autor tatsächlich fest entschlossen, alle Vorschriften für einen politischen Theatersalat konsequent zu befolgen.

Das beginnt bei der Stimme. Dieser kehlig-heisere Ton, den die Menschen an Brandt liebten, obwohl er selbst immer glaubte, das sei der Klang von Kehlkopfkrebs, kommt fast perfekt auch aus dem Hals von Andreas Hutzel. Der Lübecker Hauptschauspieler, der zuletzt Rio Reiser und Udo Lindenberg kopierte, hat sein Method Acting so ernst genommen, dass man ihn in jedem Zwielicht für das Original halten würde. Und Illusionstheater beschäftigte auch die Gewerke des Lübecker Theaters, dass es eine Freude ist. Erst ganz vorne an der Rampe lässt sich mit Sicherheit sagen, dass "Genschman" nicht er selbst, Herbert Wehner nicht von den Toten auferstanden und Rut Brandts Föhnwelle eine Perücke ist.

Aber Maske ist in Wallners Konzept nicht alles. Wallner zeigt sich hier als theatralischer Molekular-Gastronom, der einfach jede Option in eine Speise verwandelt. Da darf Guillaume steppend seine Schultern schütteln, wenn er sich freut; die sozial-liberalen Strippenzieher ziehen rot-weiße Senats-Togen an und veranstalten Revue-Tänze in einem weißen Bundestags-Himmel; das schlechte Gewissen von Willy Brandt in Form einer schwarzen Ninja-Androidin mit Hochzeitsschleppe singt "Ein bisschen Frieden" und Adolf Hitler ist blond (Kostüme: Tanja Liebermann). Dann senkt sich die Stimmung wieder hinab ins Kammerspiel, wo der depressive Trinker seine Familie zerstört, katapultiert sich in den Ring der Ostpolitik, in dem Brandt Breschnew auf die Schultern wirft, langweilt ein wenig mit realpolitischen Zwischentexten, die zum Cäsaren-Mord durch Wehners Dolchfreunde weiterleiten.

Ernstes reiht sich hier an Gaga, Königsdrama an Zahnpasta-Schauspiel, Schmelziges an Gehässiges - etwa wenn Günter Grass als eilfertiger Willy-Bückling dem Spott preisgegeben wird oder der Macher Helmut Schmidt als hilfloser Opportunist mit marmornem Verlegenheitsgrinsen auftritt. Prügelnde SA-Männer vor blutrotem Hakenkreuz dürfen in diesem Potpourri genauso wenig fehlen wie pathetische Verkündungsszenen großer Triumphe, ein singender Kennedy und Lübecks Kirchturmkulisse. Und musikalisch wird diese Revue von "Willy Daum & den Lobbyisten" als Musikcrossover behandelt, der von Kurt-Weill-Sounds zu Barock-Versatz reicht, vom Schlager zum Jazz, von der Arie bis zum Chor der Claqueure.

Doch weil Wallner mit solchem Übereifer alle Kriterien des Misslungenen erfüllt, entsteht aus den Klischees Kurzweiligkeit. Lübecks musikalischer Marketingprofit aus dem unverdienten Zufall, Brandts Geburtsstadt zu sein, gewinnt aus dem Tempo-Kitsch tatsächlich Unterhaltung. Schneller als der Schmerz wechseln die Formate, schneller, als man staunen kann, wird aus Guillaume, Grass, dann Breschnew und schließlich Schmidt, und schneller, als man feststellen kann, dass diese Pop-up-Revue über Willy Weinbrandt nichts Tiefergehendes aus seinem Leben erzählt, sind die drei Stunden auch schon ausgeplätschert. Deswegen sollte man die Show vielleicht umbenennen in "Free Willy" und Popcorn verkaufen.

© SZ vom 09.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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