Dass er dennoch stets als Lehrbeispiel herhalten muss, liegt weniger an seiner Musik denn an der Lust des Deutschraps an der Grundsatzdebatte, die so alt ist wie das Genre selbst. Als Ende der Achtzigerjahre die ersten MCs begannen, in ihrer Muttersprache zu reimen, wüteten die Pioniere der Szene: Rap auf Deutsch geht nicht - und falls doch, so ist er zumindest streng verpönt.
Nachdem Gruppen wie Advanced Chemistry das Eis gebrochen hatten, führten diese den selben Kampf an anderer Front fort. Mit religionsgleichem Eifer verteidigten sie die wahre Lehre gegen die leere Ware einer Gruppe sündenfälliger Schwaben namens Die Fantastischen Vier. So ging es immer weiter. Agit- gegen Spaßrap, Fundis gegen Realos, Berliner gegen alle. 2003 schließlich traten die Sido und Bushido die Königsdisziplin unter den Grabenkämpfen los: böser Schmuddel-Rap gegen den guten, wahren, schönen Rap. Diese Diskussion dauert bis heute an. Noch immer bekommt die Presse Schnappatmung, wenn Sido heiratet oder Bushido provoziert.
Gleichzeitig wird die Generation um Casper, Cro und Marteria konsequent als Gegenbewegung beschrieben. "Ich bumse keine Mütter" betitelte Zeit Online letzte Woche ein Interview mit Casper - ganz so, als sei das künstlerisches Programm genug. Das ist, als würde man über Thom Yorke von Radiohead sagen, dass er schon lange keiner Fledermaus mehr den Kopf abgebissen habe.
Moral war noch nie eine Kategorie für Popmusik
Die Dichotomie von stänkernden Straßenrappern und kulturellen Kreuzrittern ist stark vereinfacht, wenn nicht grundsätzlich falsch. Immer schon existierten im Hip-Hop unterschiedlichste Universen nebeneinander und beeinflussten sich gegenseitig. Das war vor 30 Jahren so, als Melle Mel den Kanon fröhlicher Fetenhits um Beschreibungen der Ghetto-Realität erweiterte. Und das ist heute in Deutschland nicht anders. Man muss Bushido nicht jede Beleidigung durchwinken. Aber das ändert nichts daran, dass sein "Vom Bordstein bis zur Skyline" ein Hip-Hop-Klassiker ist, auf dem Stimme, Wortwahl und Beat ein stimmiges Ganzes von beeindruckender atmosphärischer Dichte ergeben.
Gleiches gilt für Haftbefehl, den aktuell interessantesten Gangstarapper. Seine Erzählungen vom "Schnupfbusiness" und nächtlichen Ausflugsfahrten durch das Frankfurter Bahnhofsviertel im Mercedes SL AMG mögen moralisch fragwürdig sein. Aber Moral war noch nie eine Kategorie, nach der man Popmusik bewerten sollte.
Casper, von dem es heißt, er habe das Land vom Joch der Pöbelprolls befreit, hat sich wiederholt als Fan von Haftbefehl bezeichnet. Mit Kollegah, dessen Texte sich ähnlich kunstvoll um Kokainhandel und organisierte Kriminalität drehen, trat er kürzlich wieder gemeinsam auf. Umgekehrt hat der einstige Bürgerschreck Sido für sein kommendes Album einen Song mit Smudo von den Fantastischen Vier und Dokter Renz von der Gruppe Fettes Brot aufgenommen, jahrelang die Musterbeispiele für den bildungsbürgerlich geprägten, vermeintlich harmlosen Deutschrap der Neunzigerjahre. Das ist kein Widerspruch. Sondern vielmehr die Erkenntnis, dass sich Hip-Hop nicht nur als Ideologie, sondern auch als Kunst verstehen lässt.
Casper hat dieser Idee mit "Hinterland" sein eigenes kleines Denkmal gesetzt. Der ständig über ihm schwebenden Frage nach seiner Rolle in der Hip-Hop-Welt hat er sich rigoros verweigert und stattdessen einfach Musik gemacht. "Eins bleibt immer gleich", heißt es an einer Stelle auf der Platte: "Nach dem Feuerwerk wird aufgeräumt." Das gilt auch für den aktuellen Deutschrap-Boom. Casper sollte das Großreinemachen problemlos überstehen.