Kunststoff:Im Plastozän

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Ein chinesischer Laden für Plastikblumen: Asien produziert mehr als die Hälfte des weltweiten Aufkommens von Kunststoffen. (Foto: Richard John Seymour)

Das Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein widmet dem göttlichen, teuflischen Plastik eine Ausstellung. Ein Lichtblick.

Von Gerhard Matzig

In seiner Schrift "Mythen des Alltags" feiert der französische Philosoph Roland Barthes den Kunststoff als "magische Materie". Es ist das Jahr 1957 und Barthes schreibt: "So ist Plastik nicht nur eine Substanz, es ist die Idee ihrer unendlichen Transformation (...) sichtbar gemachte Allgegenwart (...) ein wunderbarer Stoff." Mit anderen Worten: Was für ein geiles Zeug.

Von diesem Zeug, Pardon, von diesem "tellurischen Rohstoff" (Barthes), der den Menschen dank preiswerter Produktionsbedingungen, unendlicher Formbarkeit, popbunter Exaltiertheit und marktschreierischer Zukunftsversprechen zum kongenialen Schöpfer der modernen Dingwelt erhebt, sind es nur ein paar Jahrzehnte, die der tellurische Rohstoff braucht, um vom Fabelwesen der Moderne zum Bad Guy der Gegenwart degradiert zu werden. Der kongeniale Schöpfer, der über Zahnbürsten und Puppen gebietet, über Partybesteck, Computergehäuse, Einwegspritzen und Skier, aber auch über Backpapier, Zigarettenfilter und T-Shirts, die nicht immer aus fair gehandelter Biobaumwolle, öfter dagegen aus irgendwas mit "Poly" drin bestehen (Polyacryl, Polyamid, Polyurethan, Polyester), wird mit in den Abgrund gezogen. Es ist das Jahr 2016 und auf Facebook wird ein Bild von zwei toten Walen an der Küste der Nordsee gepostet - "den Magen voller Plastik".

Zu lesen ist unter dem Bild vom Tod: "Plastik sollte das neue Schimpfwort werden." Plastik ist zu diesem Zeitpunkt schon längst das neue Schimpfwort. Der größte bekannte Plastikmüllstrudel im Nordpazifik umfasst die Größe von dreimal Frankreich oder zweimal Texas. Kaum jemand zweifelt daran, dass der Kunststoff in seiner globalen Virulenz mittlerweile zum Stoff geworden ist, an dem wir bereits ersticken. Plastik, dies nur nebenher, ist ein vager, aber im Alltag durchgesetzter Begriff für sämtliche Kunststoffe, die sehr verschieden und sehr verschieden problematisch sein können.

Wortwörtlich übrigens: ersticken. Inzwischen konnte nachgewiesen werden, dass auch der Mensch über Atemluft und Nahrung Mikroplastik zu sich nimmt. Das Plastik ist in unserem Blut, in diesem ganz besonderen Saft von faustischer Natur. Wir schwimmen den Walen hinterher. Es gibt Studien, die den Zusammenhang von Plastikchemikalien und diversen Krankheiten plausibel machen. Die Aussichten sind also düster, vor allem, wenn Jan Zalasiewicz von der Universität Leicester richtig gerechnet hat. Würde man ihm zufolge das gesamte Plastik, das je produziert wurde, zu einem großen Teppich aus Kunststoffmüll zusammenfügen, so wäre mittlerweile der gesamte Planet Erde davon bedeckt.

Verbrecher an der Supermarktkasse

Auch deshalb gibt es Geschichten von Menschen, die an der Supermarktkasse zu Aussätzigen, Kriminellen und Außerirdischen werden, weil sie immer noch um eine Plastiktüte bitten. Einmal steht man an einer solchen Kasse in München. Ein Mann will eine Plastiktüte haben, weil er offenbar in seinem weltverachtenden Wahnsinn nicht mitbekommen hat, dass es seit 1. Januar ein Plastiktütenverbot in Deutschland gibt. Das ist, aber auch das nur am Rande, genau das Land, das trotzdem seinen Plastikmüll sehr gern auf postkoloniale Weise an ferne Strände im Süden exportiert. Dennoch hat man auf dieses Plastiktütenverbot seit gefühlt 450 Jahren gewartet. Das ist exakt der Zeitraum, in dem sich eine PET-Flasche zersetzt. Nach Angaben der Organisation Plasticontrol werden von solchen Flaschen eine Million Stück weltweit verkauft. In der Minute.

Zurück zum Mann im Supermarkt mit dem insofern satanischen Verlangen nach einer Plastiktüte. Eine Frau tritt ihm beherzt entgegen und sagt: "Verbrecher". Es gibt spontan Zustimmung in der Supermarktschlange, die im Grunde ja auch zu den Mythen des Alltags zählt, zumal in ihrer moralisch-ideologischen Rigidität. Der Verbrecher, immerhin fähig zur Resozialisation, kauft schließlich einen Jutebeutel. Auf dem wird ihm logohaft dokumentiert, dass er fürderhin kein Verbrecher mehr ist - sondern die Welt rettet. Wenn es doch nur so wäre.

Um die Annehmlichkeiten des modernen "Wegwerflebens" zu illustrieren, wurde 1955 diese "Life"-Fotografie inszeniert: Es regnet Einweg-Plastik. Ironisch war es nicht gemeint. (Foto: Peter Stackpole/The LIFE Picture Collection)

Will man die eindrucksvolle, so fulminante wie brisante Ausstellung "Plastik - Die Welt neu denken", die bis Anfang September im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein zu bestaunen ist, in einem Satz beschreiben, hier ist er: Wer die Ausstellung besucht (die sich einer bemerkenswerten Kooperation des Vitra-Design-Museums mit dem V&A Dundee und dem Maat in Lissabon verdankt), durchschreitet mit großem Vergnügen die überaus komplexe, rasend ernste Geschichte eines einst verehrten, später verdammten Materials, das wie kein anderer Stoff von schillernder, sehnsuchtsvoller und zugleich apokalyptischer Natur ist. Wie Barthes schreibt: Es geht um ein alchemistisches Unterfangen der Moderne. Sie ist noch nicht zu Ende. Denn, und die Schau zeigt das: Plastik ist nicht gleich Plastik - und auch in Zukunft wird es ohne Kunststoff keine Welt geben.

Kunststoffe sind nicht per se böse, in der Medizin, um nur ein Beispiel zu nennen, retten sie auch Leben. Sehr schön im Katalog zur Ausstellung nachzulesen (im Text von Susan Freinkel über "Liebe im Zeitalter von Plastik"): "Der Chirurg, der das erste künstliche menschliche Herz implantierte, sagte, es schnappe zu, ,als würde man eine Tupperdose schließen'." Wer sich jetzt nicht mit der Tupperdose versöhnt, hat kein Herz. Und wer gerade das eine oder andere Jahr in der Pandemie besser mit als ohne Gesichtsmasken überstanden hat, weiß: Sie sind aus Kunststoff.

Letzte Ausfahrt: "Plastozän"

Nach Aufstieg und Niedergang der Kunststoffe, die als Surrogat "natürlicher" Stoffe beginnen, bald im petrochemischen Zeitalter zum materiellen Füllhorn eines demokratisierten Massenkonsums werden, die falsche Abzweigung nehmen (Einwegartikel), um schließlich im "Plastozän" als milliardenfacher Frevel entlarvt zu werden, nach all dem wird die dritte Abteilung der Ausstellung unter dem Dach endlich zum erlösenden Moment. Der Dystopie folgt die Utopie. Hier wird das aktuelle Forschen zu zukunftsfähigen "Kunst"-Stoffen zusammengetragen, die aus ihrer Geschichte gelernt haben. Diskutiert wird hier in sowohl erhellenden als auch nachdenklich machenden Interviews, was alles zu tun ist, um aus dem Plastikelend einer verschrotteten Kunststoffwelt in die existenzielle Sphäre der Umweltverträglichkeit zu gelangen. Leicht wird das nicht. Um hier abzukürzen: Vor allem wird es nicht gehen ohne eine andere Art von Ökonomie. Das billige Plastik muss zum preisbewussten Wert-Stoff an sich werden. Statt zum Endlager-Teppich.

Das Space-Age-Design ist ein Loblied auf den futuristischen Kunststoff: Panasonic entwickelte das "Toot-a-Loop"-Radio in den Siebzigerjahren. Man konnte es sich ums Handgelenk wickeln. (Foto: Andreas Sütterlin/Vitra Design Museum)

Doch die verblüffende, oft zur Hybris neigende Geschichte der Kunststoffe, die im Vitra-Design-Museum in aller gebotenen Fülle wie in aller gebotenen Konzentration aufgeblättert wird, lehrt auch: Der Mensch ist im Schulterschluss von Ökonomie und Soziologie von jeher findig. Beide Sphären können, ja müssen auch endlich mit der Ökologie versöhnt werden. Es ist möglich, den Stein der Weisen doch noch zu finden in diesem Dreiklang.

Der Kunststoff, der das Design und die Architektur im 20. Jahrhundert beflügelt hat, der einst - naturfreundlich und antikolonialistisch - für die Massen unerreichbare Kulturgüter aus zuvor geraubtem Elfenbein oder biogenem Schildpatt demokratisiert hat, der vom Krieg profitierte, in der Nachkriegsmoderne den Futurismus befeuerte, hat sich in der Vergangenheit oft gewandelt. Die Materie der Zukunft, die ein synthetischer "Natur"-Stoff sein könnte, bestehend aus schnell erneuerbaren, pflanzlichen oder recycelten Rohstoffen, CO₂-neutral über den gesamten Lebenszyklus hinweg, kann abermals in unendlicher Transformation zur magischen Materie werden. Die Zukunft ist noch nicht vergangen.

Plastik - Die Welt neu denken. Bis 4. September im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein.

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