Kunst:Blaue Melancholie

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Die Blaue Periode wurde bei Picasso ausgelöst durch Depressionen nach dem Tode seines besten Freundes: Hier sein Bild "Die Suppe" aus dem Jahr 1903. (Foto: © 2022 Estate of Pablo Picasso / Artists Rights Society (ARS), New York, VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Die Ausstellung "Picasso: Painting the Blue Period" in der Phillips Collection in Washington zeigt den Ideenklau des jungen Picasso in einer grandiosen Zusammenschau.

Von Christine Brinck

"Picasso: Painting the Blue Period" in der Phillips Collection ist eine Tiefenbohrung in die erste bedeutende Phase des jungen Künstlers von 1901-1904. Zwischen Barcelona und Paris pendelnd, fand Picasso, fast noch ein Teenager, in diesen paar Jahren seine Stimme. Dabei bediente er sich schamlos bei bewunderten Vorgängern wie Toulouse-Lautrec, Degas, Daumier, El Greco, Rodin und Puvis de Chavannes. "Eine diebische Elster" nennt ihn die Kuratorin Susan Frank im Gespräch mit ihrem kanadischen Kollegen Kenneth Brummel von der Art Gallery of Ontario (AGO), mit dem sie diese Ausstellung mehr als ein Jahrzehnt lang vorbereitet hat. Im Mittelpunkt der mehr als 70 hier gezeigten Werke Picassos stehen drei Gemälde: "Das Blaue Zimmer" (1901) aus der Phillips Collection, "Die kauernde Bettlerin" und "La Soupe", beide aus der AGO. Alle drei zeigen die typischen Merkmale dieser "blau" genannten Periode: Mitleid, Hunger, Angst, Hinwendung zu den Ausgegrenzten.

Der junge Picasso hatte kaum Geld für Leinwände, also übermalte er alte Bilder

Alle drei offenbaren aber auch ein Geheimnis, das in der Ausstellung mit wissenschaftlicher Leidenschaft aufgedeckt wird. Hinter den Werken schläft ein weiteres Bild. Picasso war in seinen jungen Jahren buchstäblich ein Hungerkünstler. Neue Leinwände konnte er sich nicht immer leisten. Also hat er alte Bilder übermalt. Diese Übermalungen hat die Spektrografie auch für den Laien sichtbar gemacht.

Die digitale Technik schreibt gleichzeitig neue Kunstgeschichte. Das wieder ans Licht Gebrachte wird von den Kuratoren in Bezug zu anderen Werken aus der Zeit gestellt. Ein raffiniertes Puzzle wird zusammengefügt, das Picassos Entwicklung enthüllt. Selbst die Datierung des "Blauen Zimmers" musste nach den Untersuchungen um ein paar Monate nach vorne verschoben werden.

Die sich waschende junge Frau im "Blauen Zimmer" ist deutlich der "Eve"-Skulptur Rodins nachempfunden worden. (Foto: Walter Larrimore © 2022 Estate of Pablo Picasso / Artists Rights Society (ARS), New York, VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

So erhellend wie die wissenschaftliche Seite dieser grandiosen Ausstellung sind auch die Verweise der Kuratoren auf die Künstler, bei denen Picasso so gern geklaut hat. Die sich waschende junge Frau im "Blauen Zimmer" ist deutlich der "Eve"-Skulptur Rodins nachempfunden worden. Der Besucher hat ein Aha-Erlebnis, weil die Skulptur in Sichtweite des Bildes steht.

Das Poster "May Milton" über dem Bett im "Blauen Zimmer" wird von dem Original Toulouse-Lautrecs begleitet. Diverse Zeichnungen von Degas und Toulouse-Lautrec von sich ebenfalls waschenden Frauen schärfen den Blick des Betrachters für Picassos Anverwandlung eines ikonischen Themas, das seine Vorbilder gesetzt hatten. Und doch ist das "Blaue Zimmer" nicht nur Zusammenfassung und Verbeugung des Zwanzigjährigen vor den Großen seiner Zeit. Der junge Spanier stellt sich zwar in eine Reihe mit ihnen, aber macht zugleich einen Riesenschritt nach vorn. Ein "Da bin ich", wie er es mit seinem 1901 hingehauenen Porträt "Yo" schon vorgezeichnet hatte.

Sein Blick für die Verlorenen ist von erschütternder Aktualität

Die Einbettung der Hauptwerke in die Vorbilder packt den Besucher: El Greco hat die "Kauernde Bettlerin" inspiriert, Puvis de Chavannes und Daumier sind die Paten für "La Soupe". All diese Anleihen wie auch die "Charité"-Bilder von Puvis de Chavannes offenbaren die fruchtbare Begegnung von Zitat und Eigenschöpfung. Der Einfluss Daumiers, dem 1901 in Paris eine Retrospektive gewidmet war, ist plastisch in Picassos Mutter-und-Kind-Bildern zu erkennen. Angeregt von Daumiers "Wäscherin" entstanden in der Blauen Periode zahllose Bilder zum gleichen Thema. Picassos Blick für die Verlorenen ist vor allem in diesen Mutter-Kind-Werken von erschütternder Aktualität - im Fernsehen erkennen wir sie in den Flüchtenden aus der Ukraine wieder.

El Greco hat die "Kauernde Bettlerin" (1902) inspiriert. (Foto: Ian Lefebvre © 2022 Estate of Pablo Picasso / Artists Rights Society (ARS), New York, VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Die Blaue Periode mit ihren Bildern von Melancholie, Tod, Armut und Einsamkeit, das gestand Picasso erst 60 Jahre später, wurde ausgelöst durch eigene Depressionen nach dem Tode seines besten Freundes. Carlos Casagemas hatte sich 1901 aus Liebeskummer in einem Café erschossen. Seinen Suizid bewältigte Picasso in dem Bild "Evocation", das deutlich Anleihen bei El Greco macht.

Als sich Picasso vor der Blauen Periode zu finden suchte, ging es recht farbig zu: Blumenstilleben und Akte, Frauenporträts und typische Szenen aus den berühmten Etablissements am Montmartre. Die Blaue geht über in die "Rosa Periode" mit wieder mehr Heiterkeit und Lebensfreude. Einige Beispiele aus dieser Zeit lassen die Ausstellung ausklingen.

Picasso: Painting the Blue Period in der Phillips Collection, Washington D. C., bis 12. Juni. Der Katalog kostet 50 Dollar.

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