Olympia und die Folgen:Verbissen

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Erst wollte sich Bürgermeister Takashi Kawamura die Medaille der Softball-Olympiasiegerin Miu Goto umhängen, dann biss er auch noch drauf. (Foto: AP)

Kleine Geste, große Reaktionen: Warum man in Japan nach der Olympiade über Seuchenschutz und Sexismus spricht .

Von Thomas Hahn, Tokio

Wann genau die Olympiasieger angefangen haben, in ihre Medaillen zu beißen, können Historiker nicht genau sagen. Nicht in der Antike jedenfalls. Denn bei den Griechen, die von 776 vor Christus an für etwa 600 Jahre im Heiligen Hain von Olympia die ursprüngliche Version der Spiele abhielten, bekamen die Sieger keine Medaillen, sondern Olivenzweige.

Der Brauch muss irgendwann im Medienzeitalter aufgekommen sein, viele Jahre nach den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896, als sie sich vom Weltsportfest zum Bilderspektakel entwickelt hatten. Er soll aus den Bedürfnissen der modernen Sportfotografie hervorgegangen sein. David Wallechinsky, Präsident der Gesellschaft der Olympia-Historiker, hat vor Jahren schon erklärt, dass Fotografen die Medaillengewinnerinnen und -gewinner irgendwann dazu aufgefordert hätten, ihren Gewinn nicht einfach nur am Bande baumeln zu lassen, sondern in die Hand und zwischen die Zähne zu nehmen. Der Satz "Es ist zu einer Obsession der Fotografen geworden", den Wallechinsky 2012 dem US-Sender CNN überließ, wird immer noch gerne zitiert.

Ein deutscher Rodler gewann Silber, aber verlor seine Zahnfüllung

Wie auch immer: Nun, Tage nach den Olympischen Spielen von Tokio, wird das Medaillenbeißen erstmals auch im Zusammenhang einer größeren gesellschaftlichen Empörung diskutiert. Das ist eine Überraschung, denn jeder Medaillengewinnerin und jedem Medaillengewinner steht es natürlich frei, so viel und so fest in die gewonnene Medaille zu beißen, wie es beliebt. Die gesundheitlichen Risiken sollte man bedenken, wie der Sonneberger Ex-Rodler David Möller berichten kann, der sich nach erfolgreichem Einsatz in Vancouver 2010 an seiner Silbermedaille eine Zahnfüllung ausbiss. Außerdem gilt das ungeschriebene Gesetz, dass man nicht in anderer Leute Medaillen beißt - eine Regel, die man nicht kennen muss, um sie einzuhalten.

Takashi Kawamura, 72, der Bürgermeister der Stadt Nagoya, hat gegen sie verstoßen, vergangene Woche, bei einem Termin mit der Softball-Olympiasiegerin Miu Goto. Japans Internet-Bürger zürnen zu Recht, die Medien berichten ausführlich. Was war passiert? Ganz einfach, Takashi Kawamura hatte bei besagtem Termin witzig sein wollen, ein Vorhaben, das bei vielen Politikern seines Alters immer wieder in Peinlichkeiten mündet. Diesmal wollte er die goldgeschmückte Goto seinen Charme spüren lassen. Mit Gesten bedeutete er ihr, sie möge ihm seine Medaille umhängen. In Japan gehört Gehorsam zum Anstand, Miu Goto folgte also. Sie ertrug auch die schwachen Sprüche des Bürgermeisters ("Dürfen Sie romantische Beziehungen haben?"). Dass Kawamura dann seine Maske abnahm und für die Fotografen beherzt in ihre Goldmedaille biss, konnte sie nicht verhindern.

In Japan kommt es nicht gut an, wenn Leute in etwas beißen, das ihnen nicht gehört

Mancher Psychologe hat das Medaillenbeißen schon damit erklärt, dass Sportlerinnen und Sportler auf diese Weise eine körperliche Beziehung zur eigenen Errungenschaft aufnehmen. Der Biss in die fremde Medaille ist also eine Weiterung der verbreiteten Untugend, sich mit den Medaillen oder auch Lorbeeren anderer zu schmücken. Es reicht nicht mehr nur zu prahlen, man muss auch etwas tun, um toller zu wirken, als man ist. Im Falle des Bürgermeisters Kawamura ging das allerdings schief. Gerade in Corona-Zeiten kommt es in Japan nicht gut an, wenn Leute ungefragt etwas anbeißen, das ihnen nicht gehört.

Miu Goto bekommt eine neue Medaille. Der Bürgermeister Kawamura übernimmt die Kosten. Er hat sich auch entschuldigt. Und zwar durchaus auch für seine sexistischen Anspielungen, wobei er damit nicht so richtig überzeugte, denn er sagte zu seiner Verteidigung: "Wenn ich junge Personen frage, ob sie einen Freund oder eine Freundin haben, erlaubt ihnen das, sich zu entspannen und mehr zu reden." Es könnte sein, dass Takashi Kawamura nicht nur sein Verhältnis zu fremden Goldmedaillen überdenken muss.

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