Olga Tokarczuk:Ohne Hochmut

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Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher. Roman. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Kampa Verlag, Zürich 2019. 1184 Seiten, 42 Euro. (Foto: N/A)

Gitla heißt eine Frauengestalt in Olga Tokarczuks Roman "Die Jakobsbücher". An ihr erzählt die Schriftstellerin die oft vernachlässigte Geschichte der jüdischen Mystik in Europa - ohne jeden Kommentar, undidaktisch, großartig.

Von Marie Schmidt

In Olga Tokarczuks monumentalem Roman "Die Jakobsbücher" gibt es eine Nebenfigur namens Gitla. Obwohl sie ein Ausnahmecharakter ist, spiegelt sich in ihr die Epoche, die da gezeichnet wird, der Übergang von der frühen Neuzeit ins Zeitalter der Aufklärung. Sie ist die Tochter des Sekretärs des Lemberger Rabbiners, und es heißt: "Ihr Vater war unvorsichtig genug, sie zu unterrichten - und bitte sehr, das sind die Folgen. Eine gelehrte Frau ist ein Quell unzähliger Sorgen." Was ist das für eine Erzählerstimme, die das so sieht? Sie spricht in der Logik der Zeit, dem ausgehenden 18. Jahrhundert, aber mit einem Gran lakonischer Ironie der Erzählerin von heute.

Gitla jedenfalls widersetzt sich allem, besonders ihrer Verheiratung, will immer lieber frei sein als ehrbar, wird eine amazonenhafte Wächterin und Geliebte des Jakob Frank, der messianischen Figur, von der "Die Jakobsbücher" handelt. Als dessen regressiv-körperliche Rituale die Glaubensgemeinschaft in Kalamitäten bringen, macht sie sich wieder los, begibt sich in eine zuerst lose Lebensgemeinschaft mit einem Arzt, der nicht schön ist, aber ein Mann des Wissens. Und dann verschwindet sie für Hunderte Seiten aus dem Roman. Als wir sie wiedersehen, sitzt sie mit dem Gatten im Wiener Kaffeehaus. Sie raucht "ein türkisches Pfeifchen" und liest die Zeitungen. In der Berlinischen Monatsschrift tobt die Debatte über die Frage "Was ist Aufklärung?", und Gitla denkt sich, dass, wo das Licht des Verstandes leuchtet, auch Schatten fallen müssen, sie entwickelt mal eben so die Dialektik der Aufklärung.

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Gitla entwickelt mal eben so die Dialektik der Aufklärung

Gershom Scholem, auf dessen berühmte Studie "Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen" sich Olga Tokarczuk bezieht, hat zur mystischen Häresie geschrieben, sie habe unter ihren Anhängern zu einem gewissen Nihilismus und "religiösen Anarchismus auf mystischer Grundlage" geführt, "der, wo er auf geeignete äußere Bedingungen traf, eine große Rolle in der inneren Vorbereitung der Aufklärung und der Reform im Judentum des 19. Jahrhunderts gespielt hat". Und die Geschichte dieser häretischen Strömungen, so weiter Scholem, habe nicht nur wegen der Widerstände der Orthodoxie nicht richtig geschrieben werden können, sondern auch nicht gegen "die besonders im 19. Jahrhundert außerordentlich wirksam gewesene Abneigung der Aufklärer und Reformer gegen die Entdeckung ihrer 'genealogischen' Beziehung zu jener Sekte, die als Inkarnation aller möglichen Laster und Verwirrungen galt".

Nicht als Geschichtsschreibung, sondern in Form des Romans hat Olga Tokarczuk das mit den "Jakobsbüchern" nachgeholt. Sie zeigt ein frühes Europa, in unzählige Sprach-, Religions- und Standesgemeinschaften zerteilt, zwischen denen dennoch ein heftiger Übersetzungs- und Handelsverkehr besteht, der die Infrastruktur bildet, in der sich dann Aufklärung und Wissen verbreiten können. Tokarczuk enthält sich aber, und darin besteht die Größe dieser Schriftstellerin, in ihrer Erzählung jeden Kommentars und jeder didaktischen Zusammenfassung, die doch nur vom Hochmut der Nachgeborenen künden würde.

© SZ vom 07.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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