Künstliche Intelligenz und Pop:"Was wir eigentlich hören, ist die menschliche Begrenztheit"

Nick Cave and the Bad Seeds treten in Berlin auf

Wir hören nie nur den Song, sondern immer auch die Geschichte dahinter: Nick Cave, hier bei einem Konzert in Berlin.

(Foto: Britta Pedersen/dpa)

Nick Cave antwortet auf die Frage eines Fans, ob künstliche Intelligenz jemals gute Popsongs wird komponieren können.

Gastbeitrag von Nick Cave

Auf seinem Blog "The Red Hand Files" antwortete der Sänger Nick Cave auf eine Frage eines seiner Fans aus Ljubljana, Slowenien. Die Frage lautet: Viele halten die menschliche Fantasie für das letzte Stückchen Wildnis. Glauben Sie, dass die künstliche Intelligenz jemals in der Lage sein wird, einen guten Song zu schreiben?

Lieber Peter,

Yuval Harari schreibt in seinem großartigen neuen Buch "21 Lessons for the 21st Century", dass künstliche Intelligenz (KI) mit ihrem grenzenlosen Potenzial und ihrer Vernetzung viele Jobs, die Menschen im Moment haben, überflüssig machen wird.

Das klingt vollkommen plausibel. Er geht aber noch einen Schritt weiter und behauptet, dass KI in der Lage sein wird, bessere Lieder zu schreiben als Menschen. Er behauptet - entschuldige meine vereinfachende Zusammenfassung - dass wir Lieder hören, um bestimmte Dinge zu fühlen, und dass KI es in Zukunft möglich machen wird, das individuelle Gedächtnis aufzuzeichnen und Songs zu erschaffen, die speziell auf unsere jeweiligen mentalen Algorithmen zugeschnitten sind. Auf diese Weise sollen wir mithilfe von Liedern all das, was wir fühlen wollen, viel intensiver und präziser fühlen können. Wenn wir traurig sind und uns glücklich fühlen wollen, hören wir einfach unseren maßgeschneiderten KI-Glückssong, und das war's.

Ich bin mir aber nicht sicher, ob das wirklich alles ist, was Lieder können. Natürlich hören wir Songs, damit wir etwas empfinden. Wir können uns glücklich, traurig oder sexy fühlen. Wir können Heimweh empfinden oder aufgeregt sein. Das ist aber nicht alles, was ein Lied mit uns macht. Ein großartiges Lied gibt uns ein Gefühl der Ehrfurcht, und das hat einen Grund. Ehrfurcht zu empfinden beruht nahezu ausschließlich darauf, dass wir als menschliche Wesen begrenzt sind. Es beruht auf unserem Wagemut als Menschen, über unsere Fähigkeiten hinausgehen zu wollen. Es ist absolut vorstellbar, dass KI ein Lied erzeugen kann, das zum Beispiel die Qualität von Nirvanas "Smells Like Teen Spirit" hat. Ein Lied, das alle Kriterien erfüllt, die nötig sind, damit wir empfinden, was wir empfinden sollten, wenn wir ein Lied wie dieses hören. In diesem Fall könnte das zum Beispiel sein, sich aufzuregen und sich rebellisch zu fühlen. Es ist sogar plausibel, dass KI ein Lied erzeugt, das uns diese Gefühle intensiver empfinden lässt, als es jeder menschliche Songwriter tun könnte.

Aber ich glaube eben nicht, dass wir, wenn wir "Smells Like Teen Spirit" hören, nur das Lied hören. Mir scheint, dass wir eigentlich die Reise eines verschlossenen, einsamen jungen Mannes hören, die in der amerikanischen Kleinstadt Aberdeen beginnt. Ein junger Mann, der nur so strotzte vor Abnormität und menschlicher Begrenztheit. Und der die Kühnheit besaß, seinen Schmerz in ein Mikrofon zu heulen und damit auf verschlungenen Pfaden die Herzen einer ganzen Generation erreichte. Wir hören Iggy Pop, wie er sich von seinem Publikum auf Händen tragen lässt und sich mit Erdnussbutter einschmiert, während er den Song "1970" singt. Wir hören Beethoven, wie er fast taub die Neunte Sinfonie komponiert. Wir hören Prince, dieses Häufchen purpurner Atome, wie er im strömenden Regen beim Super Bowl singt und die Zuhörer damit umhaut. Wir hören Nina Simone, die ihre Wut und Enttäuschung in die zartesten Liebeslieder packt. Paganini, der auf seiner Stradivari einfach weiterspielt, obwohl die Saiten gerissen sind. Wir hören Jimi Hendrix, wie er in die Knie geht und sein eigenes Instrument anzündet.

Was wir eigentlich hören, ist die menschliche Begrenztheit und der Wagemut, diese zu überschreiten. KI hat diese Fähigkeit nicht - trotz ihrer unbegrenzten Möglichkeiten. Wie könnte sie auch? Genau das ist ja die Essenz der Transzendenz. Wenn wir grenzenlose Möglichkeiten haben, was gibt es dann noch zu transzendieren? Wozu dann noch Fantasie? Musik erlaubt uns, die Himmelssphäre mit ihren Fingerspitzen zu berühren. Die Ehrfurcht und das Wunder, das wir erleben, liegt in der verzweifelten Kühnheit des Versuchs, nicht nur in seinem Ergebnis. Wo ist diese Größe noch zu finden, wenn die Möglichkeiten unbegrenzt sind? Um deine Frage zu beantworten, Peter: KI hätte die Fähigkeiten, einen guten Song zu schreiben, aber keinen großartigen. Ihr fehlt der Nerv dafür.

Alles Liebe, Nick

Aus dem Englischen von Thomas Jordan.

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