Nur weil inzwischen viele berühmte Rockstars mindestens 70 sind, wird das Dilemma leider nicht kleiner: Wie stellt man das an, in Würde auf offener Bühne alt zu werden, wenn man einst der Ansicht war, schon jenseits der 30 müsse das Leben unerträglich sein?
Die vorerst beste Antwort darauf hat, wie so oft, natürlich längst Bob Dylan gegeben, der sich ja schon eine Weile in seine eigenen Wurzeln zurückspielt. Im vergangenen Jahr brachte er "Shadows In The Night" heraus, ein Album mit Interpretationen von Sinatra-Interpretationen, und in diesem Jahr ein weiteres mit amerikanischen Pop-Standards der Vierziger und Fünfziger: "Fallen Angels". Besonders aufregend ist das nicht, aber eben doch auch von stiller Größe und weiser Demut. Mit ihrem an diesem Freitag weltweit erscheinenden Album "Blue & Lonesome" (Polydor) haben es ihm die Rolling Stones nun nachgetan.
Ihre Vorbilder hat die Band von Anfang an nach Kräften mit ins Licht bugsiert
Die Platte ist das erste Studioalbum der Band seit elf Jahren und ihr erstes reines Cover-Album. Es ist voller Songs ihrer alten Blues-Helden von Little Walter über Howlin' Wolf bis Memphis Slim, Willie Dixon und Jimmy Reed. Und was soll man sagen? Die Idee ist zwingend, und die Welt natürlich längst bereit. Denn dass die Stones den Blues lieben, ihm wesentliche Inspirationen, die Bekanntschaft von Mick Jagger und Keith Richards und nicht zuletzt ihren Namen verdanken, ist nie ein Geheimnis gewesen. Im Gegenteil, die Band hat ihre Vorbilder nicht nur von Anfang an gecovert, sondern auch nach Kräften mit sich ins Licht bugsiert.
Schon 1965 etwa, kaum zwei Jahre nach der Veröffentlichung ihrer ersten Single, weigerten sie sich in der populären amerikanischen Show "Shindig!", die vom Sender ABC landesweit ausgestrahlt wurde, aufzutreten, wenn in derselben Sendung nicht Howlin' Wolf ebenfalls ein Auftritt gewährt werden würde.
Die Rolling Stones und der Blues also, genauer: der elektrische Chicago-Blues, das gehörte schon immer zusammen. Nicht wenige der besten und genauesten Abschnitte von Keith Richards famoser Autobiografie "Life" handeln von der Musik und den Erfahrungen der Band in der Londoner Blues-Szene der Sechziger. Es gibt den berühmten Brief des jungen Keith aus dem Jahr 1962 an seine Tante Pat, in der er das berühmte Treffen mit Mick Jagger am Bahnhof Dartford schildert: "Er besitzt alle Platten von Chuck Berry, (. . .) und die ganzen Bluesmen aus Chicago, echt das Wahre, einfach klasse." Und es ist auch wirklich hinreißend, wenn Richards in der im vergangenen Jahr erschienenen Netflix-Doku "Under The Influence" erzählt, dass der Auftritt der Band mit Muddy Waters in der Checkerboard Lounge in Chicago 1981, von dem es übrigens auch ein langes Youtube-Video gibt, der einzige Auftritt gewesen sei, bei dem er sich jemals ernsthaft Gedanken darüber gemacht habe, was er anziehen solle. So weit, so fein. Die Kritik diesseits und jenseits des Atlantiks ist auch schon kollektiv auf den Knien.
Aber ist das neue Album nun wirklich zum Niederknien gut? Muss man die Stones im Blues-Kontinuum der Popgeschichte jetzt noch mal ganz neu verorten?