Eine Stunde und 48 Minuten hängt Daniel Blake mit Vivaldi in der Warteschleife. Dudulululu-dadumdam-dadumdam-dadadadadaahahh dudelt der "Frühling" aus dem Telefonhörer - eine kleine Hassmusik. Daniel versucht, das Sozialamt zu erreichen. Dass das Amt seine "Klienten" so lange warten lässt, illustriert die Asymmetrie in diesem Verhältnis und ein bürokratisches System, das Hilfsbedürftige abschreckt und oft auch hängen lässt, nicht nur in der Telefonschleife.
"Ich, Daniel Blake" ist eine bittere Anklage gegen den britischen Sozialstaat durch Altmeister Ken Loach, der dafür in diesem Jahr seine zweite Goldene Palme in Cannes gewann. Loach ist jetzt achtzig Jahre alt. Nach Werken wie "Kes", "Riff-Raff", "Raining Stones" oder "The Wind that Shakes the Barley" hätte er sich auf dem Filmolymp auch zurücklehnen können. Stattdessen ist "Ich, Daniel Blake" noch einmal ein kämpferisches Werk geworden - Loachs unversöhnlichster und wirkungsmächtigster Film seit Langem. In Großbritannien hat er einen Nerv getroffen. "Ich, Daniel Blake" ist dort ein Publikumserfolg und schaffte es in die politischen Debatten: Erst kürzlich drängte Labour-Chef Jeremy Corbyn Premierministerin Theresa May, sich den Film anzusehen, um die "institutionalisierte Barbarei" des britischen Sozialhilfesystems zu verstehen. Eine fiktive Geschichte wird zur politischen Nachhilfestunde erklärt - das muss ein Film erst einmal schaffen. "Wut kann sehr produktiv sein", hat Loach im Interview erklärt.
Ein filmisches Denkmal für die Arbeiterklasse
Dass "Ich, Daniel Blake" so gut ankommt, liegt vor allem an seinem Helden. Daniel Blake hat bis zu seinem Herzinfarkt als Zimmermann gearbeitet. Er ist ein aufrechter, ehrlicher Mann, der mit eigenen Händen ein Haus bauen könnte, seine kranke Frau bis zu ihrem Tod gepflegt hat und dessen Mutterwitz und Courage ihm auch in der Nachbarschaft Respekt garantieren. Wenn man der Arbeiterklasse ein filmisches Denkmal errichten wollte - so sähe es aus. Gleichzeitig ist diese Figur höchst lebendig, wie es Loachs Figuren immer sind. Gespielt wird Daniel Blake vom Stand-up-Comedian Dave Johns. Das Rhythmusgefühl des Komödianten sei ihm wichtig gewesen, hat Loach erklärt.
Der Regisseur und sein langjähriger Drehbuchautor Paul Laverty haben ihrem Helden Dialoge in den Mund gelegt, deren oft gallenbitterer Witz dem Sozialdrama Schwung gibt. Etwa wenn Daniels Arbeitsfähigkeit von einer "Gesundheitsdienstleisterin" im Schnelldurchlauf gecheckt wird: "Können Sie Ihre Arme so heben, als wenn Sie einen Hut aufsetzen? Können Sie Tasten drücken?" Solche Standardfragen muss Daniel beantworten, die an seinen Herzproblemen auf groteske Weise vorbeizielen. Keine fünf Minuten dauert der Check, und Daniel wird als "arbeitsfähig" eingestuft. Dabei wäre Arbeit für den herzkranken Daniel lebensgefährlich.
Das Sozialamt streicht ihm trotzdem die Unterstützung, Daniel gerät in eine Bürokratie, deren Schikanen und Irrwege zunehmend kafkaesk anmuten. Als er nach zwei Stunden Vivaldi endlich mit einem Mitarbeiter des Sozialamtes spricht, erfährt er, dass sein "Gesundheitsdienstleiter" ihn vor dem schriftlichen Bescheid hätte anrufen sollen: Er möge doch bitte auf diesen Anruf warten und dann eine Nachprüfung beantragen. Weiter geht's mit Anträgen, die nur online gestellt werden können, eine fast unüberwindliche Hürde für den 59-Jährigen. Besonders grotesk ist schließlich ein Bewerbungstraining: Daniel soll üben, einen Lebenslauf zu schreiben, um sich auf Stellen zu bewerben, die es nicht gibt und die er, gäbe es sie, ohnehin nicht annehmen könnte - es ist zum Verrücktwerden.
Der Irrsinn wird im Rhythmus und mit den Pointen einer Komödie dargelegt, einer Gattung, die ja grundsätzlich etwas Mechanisches hat. Nur dass die Mechanik dieses Systems sehr real ist. Und nicht nur Daniel wird darin zerrieben. Wenn Daniels Nachbarn von ihren Deals mit chinesischen Turnschuhen erzählen, ist das mehr als ein comic relief, hier klingt das ganze Elend einer globalisierten Wirtschaft an. Als Hoffnungsschimmer erscheint, wie so oft in Loachs Filmen, die Solidarität der Schwachen untereinander. Im Jobcenter lernt Daniel die alleinerziehende Mutter Katie (Hayley Squires) und ihre Kinder Daisy und Dylan kennen, die ähnlich wie er in existenzieller Not leben. Besonders drastisch ist eine Szene in einer Essensverteilungsstelle, wo Katie eine Konservendose aufreißt und sich den Inhalt mit den Händen in den Mund schaufelt. Die Not, die in dieser Szene zum Ausdruck kommt, ist nicht erfunden. Loach und sein Drehbuchautor haben sie bei der Recherche erlebt.
Der Staat schützt die Schwächsten nicht mehr
Hayley Squires als Katie strahlt eine tolle Lebendigkeit aus. Wie Daniel ist auch sie auf eine Weise aufrichtig, ja "unschuldig", die ihr in diesem System kaum eine Chance lässt. Dass die beiden einander helfen, ist schließlich kein Ausweg. Katie bleibt am Ende nur die Prostitution. In einem anderen Film würde die Erzählung spätestens an diesem Punkt auf Abwege geraten, würden sich Streitereien zwischen ihr und Daniel in den Vordergrund schieben.
"Ich, Daniel Blake" aber bleibt bis zum Ende so straight wie seine Hauptfigur. Nichts lenkt vom zentralen Konflikt ab - der Auseinandersetzung mit einem Staat, der die Schwächsten nicht mehr schützt, ihnen sogar die Individualität abspricht. Schließlich sprüht der Verzweifelte seine Anklage auf die Mauer des Jobcenters: "Ich, Daniel Blake, verlange einen Termin für meinen Widerspruch, bevor ich verhungere." Zu anderen Zeiten, in einem anderen Film hätte es nun Aufruhr gegeben, hätte die Aktion womöglich noch eine Wende eingeleitet.
Hier aber beklatschen nur ein paar Passanten die Aktion, die meisten gehen allerdings weiter. Daniel wird verhaftet und entschuldigt sich. Seine Anklage - das ist die bitterste Diagnose des Films - wird wohl bald entfernt werden.
I, Daniel Blake , GB/F/B 2016 - Regie: Ken Loach. Buch: Paul Laverty. Kamera: Robbie Ryan. Mit: Dave Johns, Hayley Squires, Dylan McKiernan, Briana Shann. Verleih: Prokino, 100 Minuten.