Moritz Hürtgen: "Boulevard des Schreckens":Angst und Schrecken in Kirching

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"Mir gefällt's zwar gut an der Isar, aber so richtig bin ich noch nicht über Frankfurt hinweg", so Moritz Hürtgen. (Foto: Felix Schmitt)

Moritz Hürtgen, vor Kurzem noch Chefredakteur der Titanic, schickt in seinem Romandebüt einen jungen Journalisten auf einen Horrortrip in den Speckgürtel von München.

Von Aurelie von Blazekovic

Im Münchner Speckgürtel fehlt es eigentlich an gar nichts. Die Hecken sind immergrün, das Bier fließt, das Geld sowieso und die S-Bahn fährt alle 20 Minuten in die Stadt. Dass Moritz Hürtgen, der vor Kurzem noch Chefredakteur des Satiremagazins Titanic war, in dieses Panorama der Gemütlichkeit den Spuk jagt, ergibt Sinn, weil es an einem tendenziell dann doch mangelt im Vorort: Spannung.

Dem Roman kann man das nicht vorwerfen. In Kirching, einer fiktiven Gemeinde an der Münchner S-Bahn, lässt Hürtgen, selbst aus einem ähnlichen Ort kommend, einer absurden Gruselgeschichte ihren Lauf. Ihr Protagonist ist Martin Kreutzer, Volontär bei Deutschland größter Qualitätstageszeitung mit Sitz in Berlin. Bei einer Redaktionssitzung in einem "mehrere Turnhallen großen" Newsroom ist der Zeitungslehrling gegen alle Hierarchien ausreichend vorlaut - das hat schon viele Journalistenkarrieren befördert -, um sich selbst für einen prominenten Auftrag ins Spiel zu bringen: Martin soll den jungen Künstler Lukas Moretti porträtieren, und zwar als Aufschneider und Vollidioten. So gibt es der koksende, politisch rechts fischende Chefredakteur der Zeitung vor. Kreutzer fährt also nach München und muss einhalten, was er versprochen hat, und mit Moretti ein enthüllendes Gespräch führen.

Was in München und bald dann auch in Morettis Heimatort Kirching wirklich geschieht, weckt zunächst Erinnerungen an den Skandal um Claas Relotius. Dass Martin Kreutzer sein Interview mit dem Performance-Lyrik-Elektromusikkünstler Moretti fälschen wird, ist nicht zu viel verraten. Hürtgens Roman "Der Boulevard des Schreckens" ist aber nicht bloß Journalistensatire aus dem bayrischen Vorort, also einer Gegend, in der die meisten Bewohner natürlich Siemensmitarbeiter aus Hannover sind. Martin Kreutzer gerät zunehmend in eine Geistergeschichte mit einer lyrischen Rätselkomponente. Denn der Fall beginnt mit einem Schmähgedicht. Das erinnert wieder an eine echte deutsche Mediengeschichte, nur so viel sei gesagt.

Moritz Hürtgen: Der Boulevard des Schreckens. Roman Kunstmann, München 2022, 304 Seiten, 24 Euro. (Foto: Kunstmann)

Moritz Hürtgen, 1989 geboren und vier Jahre lang Chef von Titanic, hat 2019 schon den Gedichtband "Angst vor Lyrik" herausgegeben. Mit dem Ansatz, auf humorige Weise gruselig zu sein, oder auch auf gruselige Weise humorig, ist der Gedichtband seinem Debütroman ein schlüssiger Vorgänger. Dass Hürtgen in "Boulevard des Schreckens" einen zum Nazianführer avancierenden paranoiden Blogger mit Zehenschuhen und stromlinienförmigem Rennradhelm ausstattet, zeugt von seiner Freude am Grusel des Alltäglichen, womöglich auch einfach von profunder Menschenkenntnis. Bei seiner Beschreibung von Journalisten, etwa Kreutzers Kollegin vom Spiegel, die sich seit Jahren in der Hoffnung auf eine Festanstellung abrackert, beweist Hürtgen, dass er nicht schlecht Bescheid weiß, über Zustände und Gefühlslagen im deutschen Journalismus. Martin Kreutzer hadert immer wieder mit seinem Beruf, nicht nur als er alle Integrität über Bord wirft und das Interview fälscht. Er kann sich nicht erinnern, ob er überhaupt einmal richtig gelacht hat, seit er Volontär bei der Zeitung ist.

Angenehmerweise, und trotz einiger Sujets, die sich dafür anbieten würden - Krise des Journalismus, Querdenkertum, Nazis in den Dörfern - will "Boulevard des Schreckens" nicht unbedingt etwas entlarven oder kritisch aufzeigen. Womöglich ist es auch völlig egal, welchen Beruf sich Martin Kreutzer einmal eingebildet hat, um es irgendwo nach oben zu schaffen. Je weiter Kirching ein Schauplatz des magischen Realismus zu sein scheint, desto mehr geht es für ihn ums nackte Überleben. Keine blau-weiße Gemütlichkeit kann verhindern, dass sich der Horror in der Gemeinde breitmacht. Überall sterben Menschen und im Dorfteich treiben verbrannte Forellen. Oder tun sie es doch nicht und Martin verliert nur den Verstand? Eine gefälschte Wahrheit, denkt er immerhin, ist auch irgendwie: wahr.

Der Roman verdreht und überdreht die Dinge tatsächlich in einer merkwürdig glaubwürdigen Art und bleibt dabei in der richtigen Dosis albern. Das ist eigentlich der Stil, den auch Titanic unter Hürtgen annahm. Sein Amt als Chefredakteur hat er dort im Oktober abgegeben, nach eigener Aussage, weil er die Chefetage des Satiremagazins zu luxuriös ausgebaut habe, "das war ein Massagesessel zu viel". In Wirklichkeit folgt ihm nun zum ersten Mal eine Frau ins Amt, die Autorin Julia Mateus, und Hürtgen will sich fortan der Schriftstellerei widmen. Keine ganz verkehrte Idee.

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