Vorn die Schauspieler auf Stühlen aufgereiht im leeren, butterbeige gestrichenen Raum. Der wird sich später mittels einer Falttür zu einer abgeblätterten Wirtsstube öffnen. Sechs Schauspieler leihen den Figuren von "Mittelreich", Josef ("Sepp") Bierbichlers dramatisierter Familiensaga über drei Generationen in den Münchner Kammerspielen, seltsam blutleer Körper und Stimme. Sie sind es und sind es doch nicht. Sie stehen neben sich, als da wären des Autors hoch aufgeschossenes Alter Ego Semi (Thomas Hauser und Steven Scharf), der wichtelige Seewirt (Stefan Merki), des Seewirts robuste Frau Theres (Annette Paulmann), das bedächtige Faktotum Victor (Jochen Noch) und das zwittrige Fräulein Zwittau (Damian Rebgetz). Sie wahren fast durchgehend epische Distanz.
Aber erst einmal singen sie: Ihre dünnen, immerhin intonationssicheren Stimmen schweben über den kräftigen Organen der Chorsänger des Jungen Vokalensembles München: "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden." Ein verheißungsvoller Beginn. Getröstet aber ist am Ende niemand.
Brahms, "Ein deutsches Requiem", ein bisschen Mahler und Orff, nicht zu vergessen: Wagner - Anna-Sophie Mahler, die bisher ausschließlich Musiktheater inszenierte, begreift auch "Mittelreich" als solches. Mittelreich meint hier nicht allein den Wohlstand der bildungsbürgerlich aufstrebenden Bauern- und Wirtsfamilie, sondern den Bereich des Unausgesprochenen, das allen zusetzt.
Die Regisseurin setzt das Ende des wenig verschlüsselten Schlüsselromans an den Anfang, ein bewährter Kunstgriff, der die Rückschau erleichtert und auch hier funktioniert, aber den Erzähler Semi an den Rand rückt und zum Statisten macht.
Was der Autor saftig erzählt, bleibt auf der Bühne blutleer
Es ist also das große Begräbnis des Seewirts, das die durch die sieben Sätze des Requiems strukturierten zentralen Szenen eines hochdramatischen Historiengemäldes von insgesamt einhundert Jahren individueller Geschichten und deutscher Geschichte rahmt. Einem schreibenden Bauern-Bruegel gleich, malt Bierbichler diese aus in erdigen Farben, Farben, die auch symbolisch stehen für Blut und Boden, kotiges Nazibraun, Schweineblut, dickes Kommunistenrot und speckiges Klerikerschwarz, das in seiner Bigotterie noch mal ganz andere finstere Nuancen hervorbringt, Ausdruck tiefschwarzer Seelenpein. Überzogen ist das alles mit grober Krakelüre, den Rissen, zugefügt durch eine doppelbödig-restriktive Kirchenmoral, den Schrunden von Schuld und Verdrängung.
Anna-Sophie Mahler hat aus dem dichten Gewebe starkfarbiger Erzählstränge also die stärksten ausgeschnitten und sich klug auf wenige, den gesamten Roman durchdringende Motive beschränkt: Schuld, Verdrängung, Erbe - auch das der Geschichte, das die Nachkommen nicht annehmen wollen, aber mit dem sie umgehen müssen. Als unversöhnliche Antipoden begegnen Vater und Sohn einander. Der eine hat vergessen, bei der Vergasung von 30 Kindern geholfen zu haben. Der andere übertüncht, von den Eltern in seiner Not allein gelassen, den sexuellen Missbrauch durch einen Klosterbruder mittels Lernfleiß. Beide, Vater und Sohn, verdrängen aus Selbstschutz. Und können doch nicht verhindern, dass daran die Familie zerbricht. Das "Erinnere dich!" des Sohnes bewirkt eben keine Katharsis. Der Vater bricht unter der Last der Schuld tot zusammen, der Sohn tobt in verzweifelter Wut.
Dies aber sind die einzigen Theater-Momente gegen Ende von "Mittelreich", die Mahler ihren Schauspielern an diesem zweieinviertel Stunden kurzen Abend gönnt. Stefan Merki darf so etwas wie erschrockenes Staunen über seine späte Erkenntnis zeigen und Steven Scharf, seiner Perspektivlosigkeit gewahr, ein bisschen laut werden. Sonst aber hat Anna-Sophie Mahler Bierbichlers Menschenbildern sämtlich das Leben entzogen und sie in die Künstlichkeit enthoben. Wie dem Brahms-Requiem durch die schmale Instrumentierung Pathos verwehrt ist, lässt sie Gefühle gar nicht erst zu. Stattdessen skizziert sie ein Meta-Panoptikum von fahlen Lemuren, das nicht wirklich grotesk sein darf. Die Schauspieler lesen ganze Passagen aus dem Roman, obgleich es doch, von Bierbichler selbst in monotoner Eindringlichkeit gelesen, schon das grandiose Hörbuch gibt. Und wenn es sich um Dialoge handelt, dann sprechen sie eben die Dialoge und halten, als ultimatives schauspielerisches Mittel, sogar mal Blickkontakt zueinander.
Zur komischen Nummer reduziert der Australier Damian Rebetz von der Gruppe Gob Squad das tragische Fräulein Zwittau, eine Kreuzung aus Tiny Tim und Kristina Söderbaum. Rebetz wimmert mit Kopfstimme, Annette Paulmann darf als Seewirtin Theres zumindest ein wenig Brustton riskieren, während Stefan Merki, der Seewirt, die seine offensichtlich allein im Kehlkopf zentriert - keine Brust, kein Bauch. So vergeigt er eine der stärksten Szenen des Romans, den Männlichkeitsbeweis während des großen Sturms, dem der Pankraz, der lieber Sänger als Wirt geworden wäre, erfolgreich mit der Arie des "Holländers" trotzt. Sie versendet sich als lauer Seelenwind. Ein schlaues Konzept allein ergibt eben noch kein saftiges Theater.