Memorium Nürnberger Prozesse:Von Schuld und Sühne

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"Antwort auf die Perversion": Ein neues Museum erinnert an die Nürnberger Prozesse - und an die Verbrechen, für die Nazi-Kriegsverbrecher sich dort im Jahr 1945 verantworten mussten.

Olaf Przybilla

Hedy Epstein aus St. Louis war 21 Jahre alt, als sie im Juli 1946 in Nürnberg mit der Arbeit begann. Ihr Auftrag bestand darin, Material zu sammeln für den NS-Ärzteprozess, und wenn Epstein nachdenkt darüber, dann muss die Not der Amerikaner groß gewesen sein, jemanden wie sie mit einer solchen Aufgabe zu betrauen. Epstein wurde in Freiburg geboren, sie sprach Deutsch, das war ihre Qualifikation. Vorbereitet aber hatte sie niemand auf die Dokumente, die sie in Deutschland für die Anklage gegen 19 Ärzte und eine Ärztin recherchieren sollte. Ihre Eltern sind in Auschwitz ermordet worden, von Experimenten an KZ-Häftlingen aber hatte sie bis zum Juli 1946, bis zu ihrer Ankunft im Grand Hotel von Nürnberg, nichts gehört.

Hedy Epstein aus St. Louis war 21 Jahre alt, als sie im Juli 1946 in Nürnberg mit der Arbeit begann: Sie musste Material sammeln für den NS-Ärzteprozess. Nun ist Hedy Epstein zurückgekehrt in die Stadt, in der dem Nationalsozialismus der Prozess gemacht wurde. (Foto: dpa)

Nun ist Hedy Epstein zurückgekehrt in die Stadt, in der dem Nationalsozialismus der Prozess gemacht wurde. Im Dachboden über dem Saal 600 ist am Sonntag das "Memorium Nürnberger Prozesse" eröffnet worden, 65 Jahre, nachdem US-Ankläger Robert Jackson die 134 Seiten der Klageschrift gegen die NS-Kriegsverbrecher verlesen hat. Epstein hat den Schwurgerichtssaal mit den Kronleuchtern und dem großen Kruzifix durchmessen, alles das war 1946 schon da. Dann ist sie die Treppe hinaufgegangen, ins Museum. Hier oben hat sie das Gesicht jener Frau entdeckt, über deren Worten sie damals fast verzweifelt wäre.

Dort auf dem Foto, das ist Herta Oberheuser, die Ärztin, die sich in Nürnberg verantworten musste. Epstein hat sich oft Gedanken gemacht, warum es gerade diese Angeklagte war, die ihr noch Jahre danach den Schlaf raubte. "Vielleicht weil sie eine Frau war - und ich auch", sagt sie. Oberheuser war im Konzentrationslager Ravensbrück verantwortlich für Menschenversuche mit Antibiotika. Den Opfern wurden Fäulniserreger, Glas und Holzsplitter in Wunden eingebracht, die ihnen Ärzte zuvor eigens dafür zugefügt hatten. Verletzungen durch Bombensplitter sollten damit imitiert werden. Für ihre Versuche hatte Herta Oberheuser in erster Linie junge Polinnen ausgesucht, die aus politischen Gründen in Ravensbrück inhaftiert waren.

Hedy Epstein, 86, ist ein eine zierliche Frau, sie muss den Kopf in den Nacken legen, um das Foto an der Stellwand betrachten zu können. Es gab damals einen Moment im Saal 600, in dem ihr schlecht geworden ist, erzählt sie. Das war der Moment, in dem sich die Ärztin Oberheuser zu rechtfertigen versuchte. "Sie erklärte, polnische Frauen hätten ohnehin sterben müssen", sagt Epstein. "Ich kann diesen Satz nicht vergessen." Oberheuser wurde zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, inhaftiert war sie nur fünf Jahre lang. Bald nach ihrer Entlassung ließ sie sich als Ärztin nieder, keine zehn Jahre nach Kriegsende. Erst als ehemalige KZ-Häftlinge protestierten, wurde der Ärztin die Approbation entzogen. Dass im Memorium nun auch an diese Frau erinnert wird, "das ist eine Genugtuung für mich", sagt Epstein. Ihre Augen leuchten.

Moritz Fuchs, geboren 1925 in Florida, hat Nürnberg nicht besucht, seit er die Stadt vor 64 Jahren verlassen hat. Es zog ihn nicht mehr dorthin, "das war damals kein guter Ort", sagt er. Fuchs war 1945 als einfacher Infanteriesoldat nach Nürnberg gekommen, sein Auftrag lautete, er solle die Straßen der zerstörten Stadt bewachen. Als sich die Alliierten dann für Nürnberg als Ort für den Prozess gegen die Nazis entschieden, weil es sonst nirgends mehr einen ähnlich gut erhaltenen Justizpalast samt Gefängnis gab, da kam dem einfachen Soldaten Fuchs eine ganz andere Aufgabe zu. Er wurde zum Leibwächter für US-Hauptankläger Robert Jackson ernannt, jenen Mann, der den Prozess gegen Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Julius Streicher und 19 weitere Hauptangeklagte wie kein anderer prägte. Fuchs war dabei, als Jackson acht Stunden lang die Klageschrift verlas. Und er sah, wie der Angeklagte Nummer eins, Hermann Göring, ganz links auf jener Holzbank Platz nahm, die nun im Memorium, ein Stockwerk über dem Saal 600, ausgestellt ist.

Es schlägt eine Brücke

Nürnberg, sagt Fuchs, könne "stolz auf sich sein". Er hat sich das Dokumentationszentrum auf dem ehemaligen Parteitagsgelände angeschaut, auch die große Straße der Menschenrechte, all diese Erinnerungsorte findet Fuchs gelungen. Nun kommt das Memorium hinzu, "es schlägt eine Brücke von der Schuld zur Sühne", sagt der Mann, der neben Moritz Fuchs Platz genommen hat. Es ist Arno Hamburger, der Nürnberger, der einen Teil seiner Familie in Auschwitz verloren hat. Im Prozess gegen die furchtbaren Ärzte, einem der zwölf Nachfolgeprozesse, hat er Dokumente übersetzt, aus denen hervorging, wie Ärzte ihre Opfer auf minus 35 Grad heruntergefroren haben.

750 Quadratmeter umfasst das Museum. Für den Prozess, der als Meilenstein auf dem Weg zu einer weltumspannenden Strafgerichtsbarkeit gilt, ist das nicht viel. Die Präsentation aber ist gelungen, sie gibt einen Überblick über die 218 Prozesstage, dokumentiert aber auch, wie es dann mehr als fünfzig Jahre dauern konnte, ehe sich der Internationale Strafgerichtshof formierte, der sich in wesentlichen Punkten auf die "Nürnberger Prinzipien" beruft. Auch das Heikle verschweigt das Memorium nicht: Den Vorwurf "tu quoque" - du hast das auch getan - etwa, den die Verteidigung der Klage entgegensetzte und der dazu führte, dass Großadmiral Karl Dönitz in einem Punkt frei gesprochen wurde. Seinen Verteidigern war es gelungen nachzuweisen, dass auch die Alliierten zivile Frachtschiffe bombardiert hatten.

Der bedeutendste Prozess in der Geschichte der Zivilisation

Außenminister Guido Westerwelle würdigt die Nürnberger Prozesse beim Staatsakt als "Antwort auf die Perversion des Rechts im nationalsozialistischen Deutschland". Die vier ehemaligen Siegermächte haben Delegationen nach Nürnberg entsandt, gekommen ist auch der russische Außenminister Sergej Lawrow. Er nennt den Nürnberger Prozess den "bedeutendsten Prozess in der Geschichte der Zivilisation". Der Saal 600 ist so gut gefüllt, dass Journalisten in den Nebenzimmern Platz neben müssen, anders als noch im Jahr 1945. Kulturstaatsminister Bernd Neumann will Nürnberg dabei unterstützen, sich mit dem Memorium um das Weltkulturerbe zu bewerben.

Hedy Epstein steht an der Stelle im Museum, an der in großen Lettern die "Nürnberger Prinzipien" auf eine Wand geschrieben sind. Der Grundsatz VI verdammt den Angriffskrieg. Ein Zimmer weiter ist dokumentiert, dass im Jahr 2002 sechzig Staaten das Statut des Internationalen Strafgerichtshof ratifiziert haben, jenes Statut, das sich auf die Nürnberger Prinzipien beruft. Die USA, steht dort, haben es nicht ratifiziert. "Mein Land hat wohl Angst davor", sagt die US-Bürgerin Epstein. "Ich bin sehr traurig darüber."

© SZ vom 22.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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