Wie kann es sein, dass zwei Menschen aus einer gemeinsamen Nacht gehen und der eine denkt: "Was für eine gute Zeit!" - und die andere weint im Taxi nach Hause? Wie kann es sein, dass sie sagt, sie habe eindeutige Signale gesendet - und er sagt, er habe sie nicht verstanden? "Ich hatte ein Date mit Aziz Ansari. Es war die schlimmste Nacht meines Lebens". Unter diesem Titel hat das Magazin Babe vor wenigen Tagen eine Geschichte veröffentlicht. Sie handelt von Grace, die anonym bleiben will, und Aziz Ansari, dem preisgekrönten US-Comedian.
Man kann und sollte sie hier in Gänze nachlesen, die Eckdaten sind wie folgt: Junge Frau geht mit berühmtem Mann auf ein Date, viel Aufregung, dann Ernüchterung. Er setzt sie unter Druck, will Sex. Sie geht ein bisschen auf ihn ein, zieht sich wieder zurück. Sie will sich nicht unter Druck setzen lassen. Er hört - irgendwann - auf. Es ist eine schwierige Lektüre, ein tiefer Blick in die Intimsphäre zweier Menschen, die sich kaum kennen, der detailreiche Bericht eines... ja, was denn eigentlich? Eines sexuellen Übergriffs? Eines völlig misslungenen Dates? Von schlechtem Sex? Oder doch von Nötigung?
"Wir müssen über Sex reden" ist eine ganz schlimme, eine bräsige Floskel, klar. Aber sie traf selten so sehr den Kern wie gerade: Es ist Zeit, endlich über Sex zu reden. Und zwar genau da, wo Menschen ihn haben wollen. Ehrlich und offen. Damit die "Me Too"-Debatte nicht ergebnislos in sich zusammenfällt. Damit aus den vielen Diskussionen der vergangenen Monate tatsächlich ein individuelles Umdenken erwächst, ein gesellschaftlicher Wandel, ein besserer, respektvollerer Umgang von allen mit allen.
Es ging in der "Me Too"-Debatte bislang um sexuelle Gewalt. Um Machtmissbrauch, um strukturellen Sexismus. Um einflussreiche Männer, die Hierarchien und Abhängigkeiten ausnutzten, um übergriffig zu werden. Darum geht es noch immer. Und es gilt natürlich noch immer: Sexuelle Gewalt ist Gewalt. Sexuelle Gewalt ist kein Sex. Die Entwicklung jedoch, die die Debatte in den vergangenen Wochen genommen hat, zeigt: Es geht auch um Sex. Die Debatte um "Me Too" ist dort angekommen, wo Menschen am Tresen sitzen, wo sie in der Küche stehen und noch einen Wein trinken, wo sie auf dem Sofa sitzen und rumknutschen. Und dabei Signale senden, sie nicht senden oder die des Gegenübers vielleicht ignorieren. Dort, wo Menschen mit ihren Vorgeschichten, ihren Sozialisationen, ihren Vorstellungen und Sehnsüchten, ihren Wünschen und Bedürfnissen aufeinander treffen. Kurz: Dort, wo es richtig kompliziert wird.
Es geht im Fall Ansari nun nicht um die Frage, wem man glauben soll
So viel bleibt unausgesprochen bei diesem irre schwierigen Thema Sex - irgendwo zwischen Scham, Tabu und Geringschätzung. Das Thema erfüllt viele noch immer mit Sprachlosigkeit. Und welche Folgen eben diese Sprachlosigkeit haben kann, zeigt kein Fall gerade besser als die Geschichte von Grace und ihrem Date mit Aziz Ansari.
Es gibt da etwas, was widerhallt aus dieser Geschichte und Resonanz findet im Leben von vielen Menschen. Die Unsicherheit. Aber auch das Gefühl, solch einen Abend genau so schon einmal erlebt zu haben. In der ganzen Wucht seiner verletzenden, zerstörerischen, respektlosen und letztlich gescheiterten Kommunikation.
Sex als Kommunikation ist das Spezialgebiet von Christoph Joseph Ahlers. Der Sexualwissenschaftler und Klinische Sexualpsychologe hat ein Buch über die gesamte Bandbreite menschlicher Sexualität geschrieben. Es heißt "Himmel auf Erden und Hölle im Kopf - Was Sexualität für uns bedeutet". "Wir müssen uns klar machen", sagt Ahlers, "dass wir uns bei allen Dingen, die mit unserer Sexualität zu tun haben, nicht auf dem Gipfel rationaler Vernunft befinden, sondern im Tal affektiver Impulsivität, in dem wir selber oft nicht genau benennen können, wann wir in sexueller Hinsicht was auf welche Weise wollen oder nicht." Problematisch werde es, sagt Ahlers, wenn asymmetrische Beziehungen wie ein Gefälle von Macht zu Ohnmacht vorliegen. Und ambivalente Nähe-Distanz-Bedürfnisse. Ein Jein.
Es geht im Fall Ansari nun nicht um die Frage, wem man glauben soll. Über das, was passiert ist, sind sich Grace und Ansari einig. Es geht auch nicht darum, festzustellen, wessen Wahrnehmung der Nacht die richtige und wahre ist. Hätte Grace aufstehen können und gehen, viel früher als sie es tatsächlich getan hat? Ja. Hat sich Ansari egoistisch verhalten, respektlos und wenig einfühlsam? Hat er sein Verlangen über das Wohlbefinden eines anderen Menschen gestellt? Und ist es ein gesellschaftliches Problem, wenn Männer sich so verhalten wie Ansari, nach ihren eigenen Bedürfnissen jagen, ohne Rücksicht auf das Gegenüber? Ja. Er sagt das ja selbst.
Die Geschichte von Grace und Aziz Ansari ist eine Chance. Eine Chance, endlich offen und ehrlich über ethischen Sex zu sprechen. Über einen Sex, der einvernehmlich ist. Und respektvoll. Für wen das jetzt ein Reizwort ist - bitte einmal in Gedanken das Gegenteil bilden. Das wäre dann ein Sex, der nur die Bedürfnisse eines Menschen schätzt und erfüllt. Der den Partner zum Erfüllungsgehilfen degradiert. Und an dessen Ende jemand im Taxi sitzt und weint.
Um über Sex zu sprechen, muss man die eigenen Bedürfnisse kennen. Das klingt so einfach, grundlegend und selbstverständlich. Aber da liegt auch schon das Problem.
"Es ist nicht selbstverständlich, eine klare Wahrnehmung seiner eigenen sexuellen Bedürfnisse zu haben. Und diese klar benennen zu können, ist noch schwieriger", sagt der Sexualpsychologe Ahlers. Der Wunsch, beim anderen gut ankommen zu wollen, korrumpiere die Selbstwahrnehmung. "Gut im Bett zu sein, ist für viele heute wichtiger, als sich gut im Bett zu fühlen." Dass das vor allem bei Frauen so ist, hat die Psychologin Sandra Konrad gerade in ihrem Buch "Das beherrschte Geschlecht" dargelegt.