Nachruf auf McCoy Tyner:Nichts für den Schönheitssalon

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Meister der schweren Block-Akkorde, Arpeggien und Ostinati: Jazzpianist McCoy Tyner (1938-2020). (Foto: David Redfern/Getty Images)

Er bearbeitete seine Klaviere wie Schlagwerke und fütterte sie mit Kraftausbrüchen, Quartvorhalten und afrikanischen Rhythmen. So wurde McCoy Tyner zum wichtigsten aller Jazzpianisten.

Von Andrian Kreye

Es ist fast unmöglich, die Musik des Pianisten McCoy Tyner zu entschlüsseln, der am Freitag gestorben ist. Der Saxofonist und Jazzpionier John Coltrane, mit dem Tyner fünf Jahre lang spielte, sagte mal über ihn: "Tyner ist der, der mir Flügel verleiht, damit ich abheben kann. Aber er spielt Sachen auf dem Klavier, von denen ich keine Ahnung habe." Kraftausbrüche, bei denen er Klaviere wie Schlagwerk bearbeitete, Sus-Akkorde mit Quartvorhalten, afrikanische Rhythmen und fernöstliche Harmonielehren kulminierten bei Tyner in einem ihm eigenen Ausdruck, der heute nur deswegen so vertraut klingt, weil er für Jazzpianisten schon seit den Sechzigerjahren der Gipfel ist. Unendlich schwer zu erreichen und gleichzeitig das Maß aller Dinge.

Tyner hatte eine mächtige, oft aggressive linke und eine fast schon akrobatische rechte Hand. Was für Größe er aus einem Moment heraus entwickeln konnte, hörte man schon gleich zu Beginn seiner Laufbahn. Im Herbst 1960 beispielsweise, als John Coltrane den damals 21-jährigen McCoy Tyner gerade in sein Quartett geholte hatte und mit ihm in den Atlantic Studios "My Favorite Things" auseinandernahm, den kitschig-euphorischen Walzer aus dem Alpenlandmusical "Sound of Music", das im Jahr zuvor am Broadway Uraufführung gefeiert hatte.

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So widersprüchlich - und zwar im allerbesten Sinne - war Popmusik schon lange nicht mehr. Wir verneigen uns vor Billie Eilish, "Deichkind", Solange, Ebow, "Vampire Weekend" und ein paar mehr.

Die Radikalität, mit der Coltrane und Tyner den Schlager von allem Schmelz und Schmalz befreiten, die Akkordfolgen auf ein Minimum reduzierten, auflösten, war eine Sensation. Auch weil sie damit ganz offiziell die Wende des Modern Jazz zur modalen Musik manifestierten, in der die Musiker nicht mehr auf Akkordfolgen, sondern entlang von Skalen improvisierten, was enorme Freiräume schaffte. Schwer heute im Zeitalter der übertourigen Reizschwellenverschiebungen die Wirkung zu beschreiben, die das damals hatte. Jimi Hendrix hatte in Woodstock noch einmal so einen Kulturmeteoriten inszeniert, als er die amerikanische Nationalhymne mit Rückkoppelungen und Übersteuerungen zerfetzte und gleich mal die gesamte Entwicklung des Hard- Heavy- und sonstigen Rock vorausnahm.

Die Mutter war es, die hinterher war, dass der Älteste Klavier lernt

Fast eine Viertelstunde dauert "My Favorite Things" von Coltrane mit Tyner. Der versucht erst gar nicht, sich mit den Saxofonkaskaden Coltranes zu messen. Mit schweren Block-Akkorden, mit Arpeggien und Ostinati verleiht er dem Walzer eine melancholische, fast düstere Atmosphäre. Hatte Tyner vielleicht noch im Ohr, wie sein Vorgänger Tommy Flanagan nur ein Jahr zuvor bei "Giant Steps" nach Coltranes Solo mit seiner rechten Hand kläglich am Dickicht der Harmonien gescheitert war?

"My Favorite Things" wurde im Winter 1960 / 61 in den USA ein richtiger Hit. Coltrane und Tyner spielten ihn in den fünf Jahren ihrer Zusammenarbeit öfter als jedes andere Stück. Für beide war es ein Aufbruch, der Cotrane in den Free Jazz führt und Tyner in eine lebenslange Öffnung des Jazz für immer neue Einflüsse, die ihn auch nach seinem Ausstieg aus dem Coltrane Quartet 1965 über Jahrzehnte zu einem der prägendsten Musiker in der Geschichte des Jazz machte. "Tyners Herangehensweise rollte wie eine Schockwelle durch die Gemeinde", schrieb der Pianist Ethan Iverson in einem Essay zu Tyners 80. Geburtstag. "Keiner - weder Tatum, noch Powell, noch Monk, noch Bill Evans - ließt die Bombe für Jazzpianisten so platzen wie McCoy Tyner. Seither gibt es prä-McCoy und post-McCoy. Punkt."

Was musikalisch so schwer zu erklären ist, weil es meist nur Musikern nachvollziehbar ist, wie sich ein Akkord öffnet, bei dem die Terz der Quart weichen muss, lässt sich bei Tyner erstaunlich biografisch nachvollziehen. Die aggressive linke Hand beispielsweise stammt aus seiner Schulzeit. Tyner wuchs in West-Philly auf, jenem Teil von Philadelphia, der mit seinen schmucken Reihenhäusern seit den 1880er-Jahren zu einem der zentralsten afroamerikanischen Bürgervierteln an der Ostküste geworden war. Seine Mutter Beatrice betrieb einen Schönheitssalon, und weil das der größte Raum im Haus der fünfköpfigen Familie war, stellen sie dort auch das Klavier auf. Die Mutter war es, die hinterher war, dass der Älteste Klavier lernt. Sie erlaubte ihm sogar, während der Geschäftszeiten mit Freunden Jam Sessions zu veranstalten.

In Philadelphia gab es damals eine beeindruckend große Jazzszene. Einer der ersten, die auf den jungen McCoy Tyner aufmerksam wurden, war der Trompeter Lee Morgan, damals selbst noch unbekannt und nur ein halbes Jahr älter. Der Schlagzeuger Tootie Heath, einer der legendären Heather Brothers aus der Stadt, erinnerte sich mal, wie ihn Morgan zu dem Schönheitssalon schleppte, sie durchs Fenster zuhörten und beeindruckt waren.

Ebenfalls in der Nachbarschaft wohnten Bud Powell und sein Bruder Richie. Bud gehörte zum Be-Bop-Hochadel, war mit Thelonious Monk befreundet und Charlie Parker verfeindet. Richie war der Pianist der Clifford Brown-Max Roach-Quintetts. Daheim in Philadelphia hatten sie kein Klavier, deswegen kamen sie öfter zu den Tyners, um zu üben. Der junge McCoy verstand nicht so recht, wie sie das spielten, aber es gefiel ihm. Es war dann Richie, der ihm so einiges zeigte und von dem er die schwere linke Hand abschaute.

Giganten wie Herbie Hancock und Chick Corea nannten ihn als entscheidenden Einfluss auf ihre eigene Arbeit

Die afrikanischen Rhythmen? An der Pennsylvania Academy of the Fine Arts studierte damals der ghanaische Schlagzeuger und Künstler Saka Acquaye. Um sein Studium zu finanzieren unterrichtete er an einer Tanzschule afrikanische Rhythmen. Als Begleiter holte er sich damals den jungen McCoy Tyner.

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Und dann war da noch der legendäre Pianist und Komponist Hasaan Ibn Ali, ein genialischer Querkopf, der nur einmal in seinem Leben eine Platte mit Max Roach aufnahm und sich ansonsten mit seiner, wie man so sagt, etwas intensiven Persönlichkeit selbst im Weg stand. Der experimentierte schon in den Fünfzigerjahren mit Akkorden und Dissonanzen, die erst Jahre später ins Vokabular des Jazz fanden. Von ihm lernte Tyner die Wirkung der Quartvorhalte und die virtuosen Tricks mit der Rechten. Denn Ali hatte ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein, mit dem er zuvor schon den Saxofonisten John Coltrane beeinflusst hatte, der ebenfalls in Philadelphia aufgewachsen war.

Coltrane arbeitete während der Fünfzigerjahre vor allem für Miles Davis. Er besuchte aber zwischen Touren und Aufnahmen öfter mal seine Mutter, die nicht weit von den Tyners wohnte. Coltrane fand in dem zwölf Jahre jüngeren Tyner eine Art musikalischen Seelenverwandten. Bei jedem Besuch schaute er vorbei. Oft saßen sie stundenlang vor dem Haus der Tyners auf den Stufen und redeten über Musik. Bald begannen die beiden gemeinsam zu üben. McCoy Tyner hatte seinen ersten professionellen Job dann Ende der Fünfzigerjahre im Jazztet mit dem Saxofonisten Benny Golson und dem Trompeter Art Farmer. Doch nur ein Jahr später engagierte John Coltrane den jungen Tyner für sein Quartett, das mit dem Schlagzeuger Elvin Jones und dem Bassisten Jimmy Garrison Geschichte machen sollte. Die Gruppe tourte fast ununterbrochen, nahm nebenher epochale Alben wie "Live at the Village Vanguard" und "A Love Supreme" auf. Trotzdem fand Tyner noch die Zeit, für das Blue Note-Label erste Platten unter eigenem Namen oder mit Leuten wie Freddie Hubbard, Joe Henderson und Lee Morgan aufzunehmen.

1965 kam es zum Bruch mit Coltrane. Die beiden hatten mit der modalen Musik den Jazz revolutioniert. Den Weg in den Free Jazz wollte Tyner nicht mehr gehen. Und auch wenn seine Jahre mit Coltrane und Blue Note seinen Ruf und seine Laufbahn begründeten, begann mit seinem Ausstieg eine der produktivsten Lebensgeschichten im Jazz. Auf Alben wie "Expansions", "Sahara" und "Atlantis" fand er immer neue Impulse, um die enormen Freiräume des modalen Jazz mit Ideen und Energie zu füllen. Über achtzig Alben nahm er unter eigenem Namen auf. Fünf Grammys wurden ihm dafür verliehen, Giganten wie Herbie Hancock und Chick Corea nannten ihn als entscheidenden Einfluss auf ihre eigene Arbeit. 2002 ernannte ihn das National Endowment of Arts zum "Jazz Master".

Sein letztes Album nahm McCoy Tyner 2007 auf, den Mitschnitt eines Solokonzertes in San Francisco, das von der Kritik begeistert als Beweis für die ungebrochene Wirkung seines kraftstrotzenden Stils beschrieb. Über den er sich hin und wieder selbst lustig machte. 2015 ehrte ihn seine Heimatstadt Philadelphia mit einem der unzähligen Preise, die er bekam. Ob ihn sein handgreiflicher Stil nicht schon in Schwierigkeiten gebracht habe, fragte ihn der Direktor für Jazz beim Radiosender der Temple University. "Deswegen bin ich jetzt Steinway-Musiker", sagte Tyner damals und lachte. "Die bauen mir die Sachen so, dass ich sie nicht kaputtmache."

Am vergangenen Freitag verkündete seine Familie seinen Tod über Twitter und Facebook. Er wurde 81 Jahre alt.

© SZ vom 09.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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