Mubi-Film "Malmkrog":Teufel mit am Tisch

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Hors-d'œuvres, Champagner, Mittagessen, Kognak, Abendessen, Dessert. Die Runde im Salon hat viel zu tun. (Foto: Mubi)

Der Film "Malmkrog" ist ein fantastischer Rausch zwischen Champagner und Wahnsinn.

Von Fritz Göttler

Die einzige Sünde ist die Traurigkeit, denn sie führt zur Verzweiflung. Es braucht einige Zeit, um Einsichten wie diese zu entwickeln und um sie nachzuvollziehen. "Malmkrog", der neue Film des rumänischen Regisseurs Cristi Puiu, nimmt sich diese Zeit, über drei Stunden. Wir erleben fünf Menschen in einem feudalen Haus auf dem Lande, umwuselt von geschäftigen Domestiken, einen Tag lang: Hors-d'œuvres, Champagner, Mittagessen, Kognak, Abendessen, Dessert, dazu hochkomplexe Gespräche über Gott, die Welt, den Krieg, die Liebe, den Antichrist. Man parliert französisch untereinander - Feilschen mit Worten nennt es einer -, die Diener werden auf Deutsch oder Ungarisch angewiesen. Drei Filmstunden, die ungemein aufregend und spannend sind, absurd und komisch. "Sind wir hier denn in einer Komödie?", heißt es mehrfach.

Mit seinen Filmen "Der Tod des Herrn Lăzărescu", 2005, "Aurora", 2010, und "Sieranevada", 2016, ist Cristi Puiu einer der wichtigsten Filmemacher der neuen rumänischen Welle. Im Februar 2020 eröffnete "Malmkrog" bei der letzten Berlinale die neue Reihe Encounters - die sollte zeigen, wo Carlo Chatrian, einer der neuen Leiter des Festivals, die Zukunft des Kinos sieht. Heute, nach einem Jahr Pandemie, geht es eher um die Perspektive für Filmfestivals überhaupt. Bis Ende April wird "Malmkrog" nun auf dem Streamingdienst Mubi zu sehen sein.

"Malmkrog", hat ein Schauspieler angemerkt, das klingt wie ein Stück aus dem Ikea-Katalog

"Malmkrog", sagt Cristi Puiu, das ist wie der Name für ein historisches Ereignis, das nie stattgefunden hat. Fünf adelige und bourgeoise Menschen, die sich mit dem Ende ihrer Welt konfrontiert sehen - die Beziehungen, die sie verbinden, sind vage. Ein Graf, ein französischer Geschäftsmann (oder Politiker), die Frau eines Generals, eine junge Frau (Journalistin, mit dem Grafen verwandt, verheiratet?), eine gewitzte Dame von Welt, die Madeleine heißt. Von draußen dringen Jagdhörner herein oder mal ein Fernzug, und offenbar sind die Herrschaften regelmäßig in Monte Carlo zu Gast, zum Spielen.

Der Film entstand nach einem Buch des Kulturphilosophen Wladimir Solowjow, "Drei Gespräche über Krieg, Fortschritt und das Ende der Weltgeschichte mit Einschluss einer kurzen Erzählung vom Antichrist", veröffentlicht im Jahr 1900, dem Todesjahr des Autors. Cristi Puiu las es, als er 25 war. Der Film ist das komplette Gegenstück zur kleinbürgerlichen Enge in seinem vorhergehenden Film "Sieranevada", er hat, gerade in den Interieurs, eine Offenheit, in der alles sich geschmackvoll gruppiert, immer wieder aufs Neue, die Möbel und die Tapeten, die Bilder und die Menschen. Eine Zeit lang steht auch ein Weihnachtsbaum im Salon. "Malmkrog", hat einer der Schauspieler ironisch angemerkt, das klingt wie ein Stück aus dem Ikea-Katalog. In einem Nebenzimmer allerdings wird ein alter Mann gepflegt (Graf, Oberst, Vater?).

Agathe Bosch und Marina Palii in "Malmkrog". (Foto: Mubi)

Malmkrog heißt der Ort in Siebenbürgen, wo das Landschloss liegt, in dem die Geschichte spielt, Cristi Puiu hatte sich und das Team dort für einige Wochen einquartiert. Gemeinsam mit den Schauspielern hat er Solowjows Buch durchgearbeitet, die Passagen ausgesucht, die für den Film genommen wurden. Erst dort wurde überhaupt entschieden, wer von den fünf Akteuren, zwei Männer, drei Frauen, welche Person 'spielen' sollte. Alles sehr free style, beteuert Cristi Puiu, das große Vorbild ist John Cassavetes.

Cristi Puiu war in der Armee, als er Solowjows Text erstmals las, das war am Ende des Ceaușescu-Regimes, als die sozialistischen Arbeitslager aufgelöst wurden und die Brutalität offenkundig wurde, die dort für viele Jahre geherrscht hatte. Als wieder frei geredet werden konnte über Religion und Politik. Solowjows Buch ist eine kühne Bestandsaufnahme zum Ende des 19. Jahrhunderts, die schon Elemente des nächsten im Blick hatte, sogar die Idee eines (durch Kultur) geeinten Europas.

Am Anfang des Films drängt eine Schafherde auf den Platz vor dem tief verschneiten herrschaftlichen Haus, später sinkt eine junge Frau plötzlich zu Boden, ohnmächtig, eine andere Frau hantiert keck mit ihrer Zigarette, ein Diener kriegt Backpfeifen von seinem Majordomus, ein Mann wedelt heftig mit der Tischglocke herum, aber kein Domestike reagiert darauf, Irritation und Peinlichkeit ... Wenn man sich den Trailer anschaut, hat man in eineinhalb Minuten alles, was es an "Action" gibt in dem Film.

Man denkt an den radikalsten Lockdown der Kinogeschichte, Buñuels "Würgeengel"

Die eigentliche Action in "Malmkrog" ist die Kunst der Konversation, als ein genuin filmischer Stoff. Kalauer, hochgezogene Augenbrauen, lauernde oder ratlose Blicke, beharrliches Schweigen, lässig gehaltene Champagnergläser, der exakte Umgang mit der Serviette. Denken ist Performance. Es gibt keinen Diskurs ohne die Formen, in denen er sich vermittelt. Die Kunst des 20. Jahrhunderts, das Kino, testet die des 19., das Theater. Die Kamera von Tudor Vladimir Panduru hat eine unglaubliche Eindringlichkeit. "Magier und Chirurg", schrieb Walter Benjamin in seinem "Kunstwerk"-Aufsatz, "verhalten sich wie Maler und Kameramann. Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein." Unwillkürlich denkt man an den radikalsten Lockdown der Kinogeschichte, Buñuels "Würgeengel". Man verlässt nur selten und für kurze Zeit das Haus. Die Natur ist aber sekundär stets präsent, Poussins "Vier Jahreszeiten" sind, monochrom, auf den Wänden des Salons reproduziert.

Auch brutale Gewalt ist erst mal sekundär präsent, im Brief eines Generals, der seiner Frau den Kampf beschreibt gegen die barbarischen Horden der Baschi-Bazuks, ein Plädoyer für den Heiligen Krieg. Die Sieger, sagt Cristi Puiu, sind immer die Eigentümer der Geschichte. Mitten im Abend kommt die Gewalt auch in den Salon, absurd und unerklärlich, das geht los mit Klaviergeklimper im oberen Stock, erregten Rufen, Schüssen ... Dieses Klavier, das ist wie die Musik im Stummfilm, sagt Puiu, Slapstick, Ragtime, die Ursprünge des Kinos. Die Frage drängt sich auf: Sitzt der Antichrist mit am gedeckten Tisch?

Malmkrog, Rumänien 2020 - Regie, Buch: Cristi Puiu. Kamera: Tudor Vladimir Panduru. 201 Minuten. Bei Mubi.

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