Der Messenger-Dienst Telegram ist berüchtigt dafür, dass sich Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme dort austauschen - aber auch politische Aktivisten wie in Hongkong und Iran. Viele, die sich auf Whatsapp nicht sicher oder auf Facebook, Instagram, Twitter unwohl und zensiert fühlen, weichen auf Telegram aus, weil die App eine große Anonymität gewährleistet. Auf Telegram werden Inhalte kaum reguliert, Gruppen können geheim bleiben. Es gibt die Möglichkeit, Nachrichten an mehrere tausend Empfänger gleichzeitig zu senden, die dafür nur die Gruppe des Senders kennen und abonnieren müssen. Fake News, Umsturzfantasien, terroristisches und rechtsextremistisches Gedankengut können relativ unbehelligt verbreitet werden.
Das Staatstheater Nürnberg macht sich dies in seinem "digitalen Fundus" zunutze und hat einen Account angelegt für Macbeth, Thane of Glamis, späterer König von Schottland. Auf dem Profilbild ist das jungenhafte Gesicht von Justus Pfankuch zu sehen, des Hauptdarstellers in dieser Shakespeare-Inszenierung, die man als Zuschauer live auf Telegram verfolgt: in einem Gruppen-Chat zum Mitlesen.
Macbeth gerät auf Telegram in die verschwörerischen Fänge der Hexen
Kaum eingeloggt, gerät Macbeth auch schon in die verschwörerischen Fänge des Netzes: Drei anonyme Userinnen - Shakespeares berühmte drei Hexen - grüßen ihn, schmeicheln ihm und flüstern dem siegreich aus der Schlacht Zurückgekehrten in kryptischen Kurzbotschaften ein, dass er selber bald König werde. Die zur Untermalung verwendeten Ich-lach-mich-tot-Smileys und Skelett-Sticker des Trios bedeuten nichts Gutes, aber Macbeth ist schon angesteckt. Die manipulativen Prophezeiungen infizieren sein Hirn mit dem Virus der Machtgier, und so nimmt die blutige Tragödie ihren Lauf, in diesem Fall: ihren Chat-Verlauf.
Um als Zuschauer daran teilzuhaben, muss man die Telegram-App auf sein Smartphone oder Tablet installieren und sich für einen Aufführungstermin anmelden ( hier). Rechtzeitig vor Beginn schickt das Theater dann einen Link, über den man in die Macbeth-Gruppe gelangt. Sie wächst am Premierenabend auf 700 Zuschauer an, davon bleiben 550 konstant online - quasi volles Haus. Schreiben kann in dieser Gruppe nur der Administrator, also Macbeth (der seine Postings in Echtzeit selber tippt) und ein fünfköpfiges Team vom Staatstheater Nürnberg, das mit seinen Handys vom Home-Office aus agiert und nach den genauen Anweisungen eines Textbuchs Nachrichten, Video-Clips, Emojis eingibt.
Herauskommt ein Drama im Telegram-Stil, nicht aber in Telegram-Sprache. "Macbeth - ein Kurznachrichtentheater" in der Regie von Schauspielchef Jan Philipp Gloger bleibt erstaunlich nah am Originaltext (in der vitalen Übersetzung von Angela Schanelec). Also schreibt Macbeth seiner Frau nach dem Mord an König Duncan nicht etwa "Geht mir scheiße", sondern: "Von Skorpionen voll ist meine Seele", oder: "Kein Meer wäscht dieses Blut von meiner Hand".
Auch Lady Macbeth (Lisa Mies) beruhigt ihren Gatten mit Text- und Sprachnachrichten in Blankversen, ermutigt ihn, baut ihn auf, stachelt seinen Ehrgeiz an. So wie sie Macbeth zuvor auch schon zum Königsmord angetrieben hat, unter manipulativer Zuhilfenahme all der Mittel, die der Messenger-Dienst so hergibt - vom variantenreichen Einsatz von Emojis und albernen Stickern bis hin zur Aufnahme und Versendung - oder auch Verlinkung - von Fotos, Audiofiles und Videos. Man fragt sich nur, warum zum Teufel die beiden nicht mal persönlich miteinander reden, wo sie doch unter einem Dach leben.
Wenn Macbeth des Nachts zur Tat schreitet, sind wir live dabei. Er spricht keuchend seine Ängste und Skrupel in die Handykamera, schickt dann ein Foto vom blutverschmierten Dolch. Der Königsmord setzt die bekannte Gewaltspirale in Gang - und den schleichenden Wahnsinn des Protagonisten und seiner Lady. Beim festlichen Bankett wähnt Macbeth seinen erschossenen Freund Banquo am Tisch und reagiert so außer sich, dass das mitgefilmte Video in den sozialen Medien sofort viral geht: "Peinlich!!! Macbeth rastet aus!!" Wenig später trendet die Nachricht über den Mord an Macduffs Frau und Kind auf Youtube.
Je schlimmer Macbeths Schreckensregiment wird, desto heftiger der Shitstorm auf Facebook und Twitter (#schlussdamit). Memes machen die Runde, die Telegram-Hexen frohlocken mit fiesen GIF-Stickern, Macduff twittert rachedurstig aus dem Exil: "Ich bin bald zurück!!" Der in die Enge getriebene Macbeth vertippt sich beim Schreiben immer öfter und erinnert an Jack Nicholson in "Shining", wenn er vierzigmal hintereinander postet: "Die Wahrheit lügt!"
Das Ganze ist ein so interessantes wie streckenweise amüsantes, wenn auch schnell ermüdendes Theater-Experiment. Noch unausgegoren und ohne inhaltliche Tiefe, eher so eine Art digitale Hardboiled-Comic-Version, leider auch ohne dass darin die Schauspieler groß zum Zug kämen (weshalb man bald anfängt, nebenher anderes zu tun - und das bei einer so schwarzen Tragödie). Aber immerhin: Wie das Nürnberger Schauspiel im leidigen Lockdown das Handy hier zur Bühne macht und auf der Folie eines Klassikers einen Blick wirft auf die Art, wie wir heutzutage kommunizieren, ist aufgeweckt und verdient alle Achtung. "Macbeth" eignet sich für dieses Chat-Theater insofern gut, als es Shakespeares kürzeste Tragödie ist und sich so zügig wie stringent aus dem Blick - hier: Account - einer einzigen Person erzählen lässt. Und die Telegram-App lässt sich danach auch schnell wieder löschen.