Theater und Virtual Reality:Bastarde von eigentümlicher Schönheit

Theater und Virtual Reality: Letzte Exemplare des untergegangenen Anthropozäns: Nico Link und Katrija Lehmann in dem Endzeitstück "Krasnojarsk".

Letzte Exemplare des untergegangenen Anthropozäns: Nico Link und Katrija Lehmann in dem Endzeitstück "Krasnojarsk".

(Foto: Johanna Lamprecht/Schauspielhaus Graz)

Die Theater brechen in virtuelle Welten auf. Das Schauspielhaus Graz schickt die Zuschauer in "Krasnojarsk" auf eine Endzeitreise durch die Pampa. Freiburg zeigt "Faust II" als Cyber-Puppenspiel.

Von Christine Dössel

Wenn wir nicht mehr ins Theater kommen, dann kommt das Theater eben zu uns nach Hause. Zum Beispiel per Post vom Schauspielhaus Graz. In dem gelben Paket liegt, bruchsicher verpackt in einer Hartschalenbox, eine VR-Brille samt Controller. Live aus dem Theater streamen, das kann und tut inzwischen ja fast jede Bühne (mehr oder weniger gut). Einige schauen, was darüber hinaus noch geht. Zum Beispiel: aus einem Theaterstück ein Virtual-Reality-Filmprojekt machen, gedreht mit einer 360°-Kamera.

Das von Iris Laufenberg geleitete Schauspielhaus Graz hält sich zugute, das erste österreichische Theater zu sein, das seinem Publikum ein solches Experiment anbietet. In Deutschland ist das Staatstheater Augsburg der Vorreiter; es hat schon vor Corona mit VR-Technik experimentiert und inzwischen ein halbes Dutzend Stücke mit 360-Grad-Perspektive im Angebot. Ob sich jeder Stoff für die technologische Realsimulation via Spezialkamera und Headset eignet, sei dahingestellt; das Stück "Krasnojarsk" des norwegischen Dramatikers Johan Harstad jedenfalls ist perfekt dafür. Es handelt sich um einen dystopischen Einakter aus Monologblöcken und zwölf "Berichten", dessen Verfasser die Theater explizit dazu "ermutigt", damit zu machen, was sie wollen. Streichen, hinzufügen, umstellen, egal. Welcher lebende Autor - Harstad wurde 1979 in Stavanger geboren und bereits mehrfach für sein Werk ausgezeichnet - gewährt schon so viel Freiheit? Außer der coolen Elfriede Jelinek natürlich.

"Krasnojarsk" spielt nach einer globalen Katastrophe, die beinahe die gesamte Erdoberfläche vernichtet hat. Tektonische Platten haben sich verschoben, nur noch ein Teil der eurasischen existiert. Wer dächte da nicht an die Folgen des Klimawandels. Die wenigen Überlebenden, so ist zu erfahren, haben sich in die sibirische Stadt Krasnojarsk geflüchtet, in der Hoffnung, eine neue Zivilisation errichten zu können. Dort spielt das Stück aber gar nicht, sondern in den landschaftlichen Weiten zwischen China und Russland, wo ein Anthropologe, ausgestattet mit Zelt, GPS und einem RFID-Transponder, nach Spuren menschlichen Lebens sucht. Er tut das schon seit Jahren, und täglich funkt er nach Krasnojarsk, was er gefunden hat: nichts.

Theater und Virtual Reality: Die Frau (Katrija Lehmann) trägt Dokumente der untergegangenen Zivilisation in zwei Koffern bei sich.

Die Frau (Katrija Lehmann) trägt Dokumente der untergegangenen Zivilisation in zwei Koffern bei sich.

(Foto: Johanna Lamprecht/Schauspielhaus Graz)

Eines Tages jedoch stößt er in der Wildnis auf eine junge Frau, die zwei Koffer mit Artefakten der untergegangenen Welt dabei hat, Zeugnissen des Menschen: was und wie er war. Nein, keine Bücher, Filme oder USB-Sticks mit geheimen Informationen, sondern persönliche Briefe und handschriftliche Beichten aus aller Welt. Die meisten sind negativen Inhalts, Dokumente des Ringens, Liebens und Scheiterns - und doch: "eindeutige Beweise, dass die Menschen auf den verschwundenen Kontinenten nicht nur gelebt hatten ... sondern auch, dass ihre Leben bedeutsam gewesen waren, voller Siege, Sorgen und Verluste, unwiderruflicher Niederlagen". Das Leben eben. Später stoßen sie auch noch auf eine alte Vinylscheibe und einen Plattenspieler und glauben, damit gefunden zu haben, was "mehr als alles andere Ausdruck der menschlichen Existenz war": Musik und Schrift.

Statt den anderen Forschern in Krasnojarsk Bescheid zu geben, richtet sich der Anthropologe mit der jungen Frau, die er aus alter Berlin-Nostalgie "Kreuzberg" nennt (weil sie da mal gelebt hat), in einer Scheune ein. Kreuzberg wird hier erkranken und der Anthropologe sie schnöde verlassen, während ein "zweiter Anthropologe" im Anmarsch und hinter den Briefen her ist und dafür auch vor brutaler Gewalt gegen die Frau nicht zurückschreckt. Dass der Text triefend retroromantisch und sprachlich wie dramaturgisch kein Glanzstück ist, mindert kaum die Faszinationskraft dieser deutschsprachigen Erstaufführung unter Federführung von Tom Feichtinger (Regie) und Markus Zizenbacher (Bildgestaltung/Schnitt). Ihre "Endzeitreise in 360°" ist großes Heimbrillenkino. Der Text stark gekürzt, die Bildsprache postapokalyptisch-trostlos. Vor den Augen Steppen, in denen man sich verlieren könnte.

Die künstlich erzeugte Realität lässt einen eintauchen in das Geschehen, in die Landschaft

Der 3-D- und Dolby-Surround-Effekt der VR-Technik erzeugt das Gefühl, selber mit im Film zu sein, mit dem einsamen Anthropologen (Nico Link) die Pampa zu durchstreifen, neben ihm und der hungrigen Kreuzberg (Katrija Lehmann) am Lagerfeuer zu kauern, mit ihnen in der riesigen Scheunenhalle unterzukommen. Wie Kriegsflüchtlinge, denen der Feind auf der Spur ist. Der "zweite Anthropologe" kommt denn auch wie ein Offiziersbösewicht mit einer Schar von Häschern daher.

Die künstlich erzeugte Realität bietet das Immersionserlebnis schlechthin: einzutauchen in das Geschehen, in die Landschaft, in den virtuellen und doch so lebensecht wirkenden Raum. Wendet man den Kopf nach links oder rechts oder ganz herum (das Theater empfiehlt einen Drehstuhl, es geht auch ein Gymnastikball), geht die Landschaft weiter. Oder aber sie wartet plötzlich mit völlig anderen Räumen und Szenerien und, so denkt man, hoffentlich nicht mit bösen Überraschungen auf. Das Theaterfilmteam arbeitet da eindrucksvoll mit suggestiven Überblendungen und mit Projektionen, die an das urbane Getriebe der Zivilisation oder an familiäres Verlorensein in Designerwohnungen erinnern. Gedreht wurde unter anderem in der Gegend um den Neusiedler See - in einer fantastischen Endzeitödnis. Österreich-Sibirien.

Man darf die Theater für die neuen Technologien loben. Binnen eines Jahres ist viel passiert

"Alle Geschichten sind unterm Strich wertlos, wenn man sie niemandem erzählen kann", sagt die junge Frau einmal (die übrigens, das ist der Clou, alle Lebensberichte in den Koffern selbst verfasst hat). Weil das auch für das Theater gilt, kann man Erzählexperimente wie dieses nur gutheißen, auch wenn so ein Virtual-Reality-Film natürlich nicht das Live-Erlebnis Theater ersetzen kann. Aber man darf ruhig auch mal die Neugier und das Vermögen der Bühnen loben, mit neuen, intermedialen Technologien und Bildsprachen professionell zu arbeiten und dadurch ihr Repertoire zu erweitern. Binnen eines Pandemiejahres ist da sehr viel passiert.

Herausragend in diesem Sinne ist auch die "Faust II"-Version, die der hierzulande noch unbekannte polnische Regisseur Krzysztof Garbaczewski am Theater Freiburg herausgebracht hat - eine Hybrid-Inszenierung an der Schnittstelle von Theater, Film und Virtual Reality. Aus der Pandemienot geboren entstand ein Theaterbastard von seltsamer Schönheit. Live auf der Bühne, im Film und in den digitalen Räumen virtueller Technologien treffen hier Schauspieler (mit Spezialbrillen) und Avatare aufeinander, können miteinander interagieren. Man wähnt sich wie in einem High-Brow-Computerspiel, in einer neonbunten Science-Fiction-Welt voller befremdlicher Wesen. Als habe Susanne Kennedy "Second Life" gekapert und ins Psychedelisch-Traumselige weitergeführt. Als Zuschauer kann, muss man dafür aber keine VR-Brille tragen. Die Aufführungen wurden - und werden hoffentlich weiter - live aus dem Theater gestreamt.

FAUST II, Theater Freiburg

Psychedelischer Trip in eine neonbunte Science-Fiction-Welt: Mephisto (Victor Calero) mit VR-Brille. Im Hintergrund: Thieß Brammer als Faust und Janna Horstmann als Helena.

(Foto: Britt Schilling/Theater Freiburg)

Goethes "Faust II", dieses irre Werk mit seiner labyrinthischen Textarchitektur und seinem märchenhaft-mythischen Personal, eignet sich für so einen Trip in fremde Welten wunderbar. Verstanden hat man dieses Stück ohnehin noch nie, insofern ist es egal, dass Garbaczewski und seine Schauspieler es eher wie eine Landschaft durchschreiten, als dass sie in die Tiefe gehen und es zu durchdringen versuchen. Es dient als Folie für Begegnungen der dritten Art: Helena, Euphorion, Philemon und Baucis - Figuren, die wie Außerirdische wirken, Cyborgs, Avatare, technoide Kreaturen. Da fügt es sich gut, dass in "Faust II" ein künstlicher Mensch erschaffen wird. Homunkulus ist hier eine virtuelle Homunkula.

Betont künstlich auch die Kulissenbühne von Aleksandra Wasilkowska mit ihren stilisierten Bergen, Stufen, Antike-Zitaten. Im virtuellen Verfremdungsblick der Kamera wird sie zu einer Geisterbahn mit Höllenschlund. Hier verliert sich der hippieske Weltenwanderer Faust (Thieß Brammer) im Digitaldickicht der Stätte; angeleitet von einem indianisch-priesterlichen Mephisto (Victor Calero), der ein echter Gestaltwandler ist.

Dass die Schauspieler die Goethe-Verse wie in Trance sprechen, in einer sehr getragenen, immer gleichen, einschläfernden Tonart, nimmt dem visuellen Sog viel Dynamik. Insgesamt aber ist dieser "Faust II" ein aufregendes Experiment. Ausbaufähig. Das Verrückte ist, dass hier etwas entsteht, was zum Urstoff des Goetheschen Dramas wie die Faust aufs Auge passt: ein virtuelles Puppenspiel. Also fast schon wieder werkgetreu.

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