"Loveless" im Kino:Ehe im Endstadium

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Schenja (Marjana Spiwak) schaut immerzu in ihr Handy, für ihren Sohn Aljoscha (Matvej Nowikow) hat sie kein einziges freundliches Wort. (Foto: Alpenrepublik)

Das Familiendrama "Loveless" erzählt von einem verschwundenen Kind und von stumpfen, erkalteten Seelen. Der Film ist das Porträt einer zerfallenden russischen Gesellschaft.

Von Martina Knoben

Russland kann sehr kalt sein, und damit sind nicht die Temperaturen jenseits des Urals gemeint. Die Kälte, die in diesem Film fast durchgängig zu spüren ist, ist eine der Seelen. Schenja (Marjana Spivak) blickt kaum je von ihrem Smartphone auf. Und wenn sie mit ihrem Mann oder Sohn spricht, feuert sie verächtliche Sätze ab, die jeden empfindsamen Menschen schaudern lassen. Bei ihrem Mann Boris (Alexej Rosin) versacken diese Attacken in machohafter Stumpfheit, was ihn aber nicht daran hindert, verbal zurückzuschlagen.

"Loveless", lieblos, hat Andrej Swjaginzew seinen Film genannt, der Titel könnte treffender nicht sein. Hier sind alle ohne Liebe: Die Männer lieben ihre Frauen nicht, die Frauen nicht ihre Männer. Und Eltern haben keine Liebe für ihre Kinder. Es gibt in diesem Film ein Bild, das kein Zuschauer so schnell vergisst. Da haben sich Schenja und Boris mal wieder gestritten, diesmal darüber, wer sich nach der Scheidung um ihren 12-jährigen Sohn Aljoscha (Matwej Nowikow) kümmern muss. Es ist nicht das übliche Gezerre, wer "mehr" vom Kind haben darf - vielmehr will keiner der beiden, die jeweils schon andere Partner haben, den Sohn in sein zukünftiges "Glück" mitnehmen. Aljoscha soll ins Internat; da lerne er Disziplin, er müsse ja sowieso bald zur Armee, giftet Schenja. Danach schlüpft die Kamera mit ihr durch die Küchentür und entdeckt Aljoscha im Halbdunkel dahinter. Er hat alles gehört und weint bitterlich. Sein Gesicht ist ein einziger stummer Schmerz. Diese Einstellung ist einer der seltenen Momente des Films, in dem eine Figur ihre Gefühle deutlich zeigt, in dem auch die Kamera einem Menschen ganz nahe ist. Das Bild des weinenden Jungen wird so zur Ikone der Verzweiflung - und bleibt als Nachbild und Anklage auch dann noch, als Aljoscha aus der Familie und dem Film längst verschwunden ist.

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Selten hat man Kinder vor der Kamera bezaubernder agieren sehen als in "The Florida Project". Max Hubacher guckt in "Der Hauptmann" dagegen eher unspannend aus der Offizierswäsche.

Der Junge verschwindet, so leise und unbemerkt, wie er vorher gelitten hatte. Die Eltern entdecken sein Fehlen erst einen Tag später, als sich die Schule bei ihnen meldet. Regisseur Swjaginzew zeigt nicht, wohin der Junge gegangen ist. Übliche Spannungsmomente interessieren ihn nicht, und Sentimentalität meidet er konsequent. In "Leviathan" (2014), seinem vorherigen Film, hat er die institutionelle Korruption in Russland angeprangert. Überwältigend düster und so überzeugend, dass das Werk unter anderem mit einem Golden Globe ausgezeichnet wurde.

Schenjas Mutter wird einmal "Stalin im Rock" genannt. Das ist als historischer Hinweis gemeint

"Loveless" ist nun ein bitteres Familiendrama, in dem er ebenso illusionslos die "Entmenschlichung", wie der Regisseur sagt, moderner Stadtmenschen beschreibt. Damit ist nicht nur, aber eben auch, das Klima im heutigen Russland gemeint. In Cannes wurde "Loveless" mit dem Preis der Jury ausgezeichnet; als russischer Beitrag war er für den Auslands-Oscar nominiert. Das Ambiente, in dem Swjaginzew seine Szenen einer Ehe ansiedelt, ist ausgesprochen bürgerlich, das macht die geistige und seelische Leere seiner Figuren umso erschreckender. Boris und Schenja sind keine durch äußere Not in die Verrohung getriebenen Gestalten, vielmehr repräsentieren sie ein postmodernes, postindustrielles, wohlhabendes Russland, das Swjaginzews Erzählung auch historisch zu verorten weiß: Schenjas Mutter wird von Boris einmal "Stalin im Rock" genannt; und ein kurzer Besuch bei ihr macht klar, woher Schenjas Gefühlskälte kommt.

Es sind oft nur solche Andeutungen, die aber so präzise sind, dass sich die Figuren und ihre Beziehungen wie von selbst zur Gesellschaftsskizze zusammensetzen. Boris' größte Sorge etwa gilt seinem Arbeitgeber, der als streng Orthodoxer Scheidungen ablehnt - ein böser Kommentar zur russischen Doppelmoral. Schenjas neue Liebe wiederum ist ein reicher Unternehmer, der im Luxusappartement seiner erwachsenen Tochter hinterhertrauert, die im Ausland studiert; Schenja nennt er das "hübscheste Monster der Welt". Und Boris bekommt ein Kind mit der süßen jungen Mascha, die die Jugend und die Unschuld zu verkörpern scheint, aber schlechte Träume hat, in denen ihr ein Zahn gezogen wird. In der Traumdeutung - Mascha fragt ausdrücklich danach - steht das für enttäuschte Erwartungen.

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So realistisch vieles gezeichnet ist (besonders illusionslos beschreibt Swjaginzew die Wurschtigkeit der Polizei), gibt es doch immer wieder Details, welche die Erzählung ins Überzeitliche, Parabelhafte heben. Ein leer stehendes marodes Gebäude, vielleicht eine frühere Parteizentrale, in dem Aljoschas Jacke gefunden wird, wird zu einem Bild für die zerfallende russische Gesellschaft und das historische Erbe der Sowjetzeit. Im Radio ist vom Maya-Kalender die Rede, der den Untergang der Welt noch in diesem Jahr prophezeie. Dazu passend sind immer wieder Neuigkeiten vom Krimkrieg zu hören. Wenn schließlich in Nachtaufnahmen nach dem verschwundenen Kind gesucht wird, glühen die Bilder, als wäre die Welt ein Fegefeuer.

So wird auf vielen Ebenen eine Endzeitstimmung beschworen. Weil jeder nur an sich denkt, geht alles den Bach runter. Das könnte entsetzlich deprimierend sein und ist es nur deshalb nicht - oder nur zum Teil -, weil der Film sehr aufmerksam eine Freiwilligengruppe begleitet, die ohne Bezahlung, mit viel persönlichem Einsatz nach Aljoscha sucht. "Eine solche Haltung", sagt Swjaginzew, "ist für mich der einzige Weg, der forschreitenden Entmenschlichung entgegenzutreten und die Verwirrung der Welt zu beruhigen." Das ist immerhin eine Perspektive.

Nelyubov (Loveless) , Russland, Frankreich, Belgien, Deutschland 2017 - Regie: Andrej Swjaginzew. Buch: Oleg Negin, A. Swjaginzew. Kamera: Michail Krichman. Schnitt: Anna Mass. Mit: Marjana Spiwak, Alexej Rosin. Matwej Nowikow, Marina Wassiljewa . Alpenrepublik, 127 Minuten.

© SZ vom 15.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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