Politischer Streit um Literaturnobelpreis:"Sollen andere Generationen verarbeiten. Wir belohnen Adjektive"

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Peter Handke im Oktober 2019 in Chaville, in der Nähe von Paris. (Foto: AFP)

Viele Schriftsteller und Intellektuelle sind entsetzt über den Literaturnobelpreis für Peter Handke. Die polnische Regierung versucht, die Auszeichnung für Olga Tokarczuk zu instrumentalisieren.

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Warum Olga Tokarczuk und Peter Handke den Nobelpreis verdient haben, hat die Schwedische Akademie in eher wolkigen Sätzen formuliert. Man ehre Tokarczuk für einen "erzählerischen Einfallsreichtum, der mit enzyklopädischer Leidenschaft das Überschreiten von Grenzen als Lebensform zeigt", Handke für ein "einflussreiches Werk, das mit sprachlichem Einfallsreichtum die Ränder und Besonderheiten der menschlichen Erfahrung erkundet hat". Dass sich die Öffentlichkeit mit solchen ästhetizistischen Allgemeinheiten nicht begnügen würde, war zu erwarten. Die Preise gehen schließlich an zwei Autoren, die sich politisch stark Gehör verschafft haben.

Die bereits in den Neunzigerjahren hart geführte Debatte um Handkes Parteinahme für die serbischen Nationalisten im Bosnienkrieg, seine Relativierung ihrer Kriegsverbrechen, flammte durch die Ehrung sofort wieder auf. Den ersten Gratulationen folgten Entsetzensadressen. Die Schriftstellerin Jennifer Egan schrieb in ihrer Funktion als Präsidentin des PEN America, man äußere sich normalerweise nicht zu Juryentscheidungen, in diesem Fall aber müsse es eine Ausnahme geben: "Wir lehnen die Entscheidung ab, dass ein Schriftsteller, der hartnäckig gut dokumentierte Kriegsverbrechen infrage gestellt hat, es verdient hat, für seinen 'sprachlichen Einfallsreichtum' gefeiert zu werden. Zu einem Zeitpunkt, zu dem Nationalismus, autokratischer Führungsstil und weitverbreitete Desinformation im Aufschwung sind, hat das literarische Leben Besseres verdient."

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Autor und Werk müssen getrennt betrachtet werden. Diese Ambition stößt im Fall Peter Handke an ihre Grenzen - spätestens bei den Opfern der von ihm in Schutz genommenen Kriegsverbrecher.

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Der Präsident Kosovos, Hashim Thaçi, erklärte, die Entscheidung der Akademie füge unzähligen Opfern der Genozide in Bosnien und in Kosovo Schmerzen zu. Und der slowenische Autor Miha Mazzini gab zu Protokoll, wie er in einem bitterkalten Winter des Jugoslawienkrieges einen Tag in der Schlange verbracht habe, um Heizöl zu bekommen, und am Abend "fast erfroren" Handkes Essay über Jugoslawien las: "Er schrieb, wie er mich beneide: Während die Österreicher und Deutschen dem Konsumismus verfallen seien, müssten wir Jugoslawen für alles Schlange stehen und kämpfen. Oh, wie nahe wir der Natur seien!"

Die Erbitterung, die man seiner Geschichte anhört, ist charakteristisch für die Kritik an diesem Nobelpreis. Der deutsche Schriftsteller Saša Stanišić, der als Kind mit seinen Eltern den Massakern von Višegrad entkommen ist, schreibt auf Twitter, der Nobelpreis an Handke sei "ein weiteres Signal - Geschichte ist uns egal. Sollen andere Generationen verarbeiten. Wir belohnen Adjektive."

Und tatsächlich erklärte der Sekretär und Sprecher der Schwedischen Akademie auf Nachfragen, es sei nicht der Auftrag seiner Institution, literarische Qualität gegen politische Überlegungen abzuwägen. Ob nun aus Kalkül oder nicht: In diesem besonderen Jahr, in dem zwei Nobelpreisträger benannt wurden, hat die Akademie Entscheidungen von enormer politischer Resonanz getroffen.

Der polnische Kulturminister verspricht, die Bücher der Preisträgerin zu Ende zu lesen

Denn auch Olga Tokarczuk, die Preisträgerin für das Jahr 2018, ist eine engagierte Autorin. Obwohl ihr literarisches Werk direkte Bezüge zur aktuellen Politik vermeidet, hat sie sich als Publizistin und Essayistin sehr kritisch zu der jetzigen Führung geäußert, die ein nationalkatholisches Gesellschaftsbild und nationalpatriotische Geschichtsbilder propagiert, deren Wirtschaftsprogramm aber klassisch links ist.

Das offizielle Warschau hat nun, wohl nach einer Schrecksekunde, schnell die Ehrung für Olga Tokarczuk zu einer Auszeichnung für die gesamte polnische Kultur erklärt. Den Ton gab Staatspräsident Andrzej Duda an, der in westlichen Medien gern als Marionette des Chefs der Regierungspartei PiS, Jarosław Kaczyński, porträtiert wird, aber längst eigene Akzente setzt. Andrzej Duda schrieb an Olga Tokarczuk: "Mein herzlicher Glückwunsch! Ein großer Tag für die polnische Literatur!"

Auch der gern provozierende konservative Kulturminister Piotr Gliński, der zu einer der Hassfiguren in der linken Kulturszene geworden ist, legte in diesem Sinne nach. Noch zwei Tage vor der Verkündung der Namen der Sieger durch die Stockholmer Akademie hatte er in einem Interview bekannt, er habe keines ihrer Bücher zu Ende gelesen. Nun ließ er offiziell verlautbaren: "Der Erfolg einer polnischen Kulturschaffenden ist überaus erfreulich. Es ist ein hervorragender Beleg dafür, dass die polnische Kultur auf der ganzen Welt geschätzt wird." Auf seinem privaten Twitterkonto versprach Gliński mit einem Anflug von Selbstironie, dass er sich nun verpflichte, die angefangenen Bücher zu Ende zu lesen. Der bekannte Schauspieler Maciej Stuhr, der in den vergangenen Jahren immer wieder scharfe Kritik an der PiS-Kulturpolitik geübt hatte, twitterte: "Zu spät, Herr Minister!"

Rechte Internetforen sind voll von Schimpfkanonaden gegen Olga Tokarczuk

Auf Gliński nahm auch der EU-Ratspräsident Donald Tusk ganz offensichtlich Bezug. Er schrieb: "Ich habe alles von ihr gelesen, vom Anfang bis zum Schluss!" Tusks Amtszeit in Brüssel endet in Kürze, in Warschau wird spekuliert, ob er zu den Präsidentenwahlen im kommenden Jahr gegen Duda antritt. Sein Lob wurde als Botschaft an die Adresse des linken Wählerspektrums verstanden, das ihn seit seiner Wandlung vom ursprünglich Liberalen zum staatstragenden Konservativen derzeit geschlossen ablehnt. Tokarczuk war bei den polnischen Grünen aktiv und hat für die links orientierte Zeitschrift Krytyka Polityczna geschrieben.

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Im Gegensatz zu den anderen Parteien im Parlament gab die PiS keine Erklärung zum Preis für Tokarczuk ab. Ein Parteisprecher verwies nur darauf, dass der Vorsitzende Kaczyński bereits vor drei Jahren erklärt habe, er habe einiges aus dem literarischen Werk der Nobelpreisträgerin mit Interesse gelesen. Zwar befand das nationalistische Internetportal Wpolityce, dass die Stockholmer Akademie sich von politischen Kriterien habe leiten lassen, aber polemische Attacken gegen die Autorin, wie sie früher dort zu lesen waren, blieben nun aus. Tokarczuk gilt der Rechten als Feministin, die durch ihren Einsatz für die LGBT-Gruppen traditionelle Werte in den Dreck ziehe.

Nach der tödlichen Messerattacke auf den liberalen Danziger Oberbürgermeister Paweł Adamowicz durch einen nationalistischen Fanatiker im Januar dieses Jahres hatte Olga Tokarczuk das nationale Lager erzürnt, als sie in der New York Times schrieb: "Ich sorge mich um unsere nächste Zukunft." Schon zuvor hatte die Schriftstellerin eine Welle von Hasskommentaren geerntet, als sie vor drei Jahren in einem Fernsehinterview sagte: "Wir haben uns die Geschichte Polens als tolerantes und offenes Land ausgedacht, das sich durch nichts Schlechtes in seinem Verhältnis gegenüber Minderheiten befleckt hat. Aber auch wir haben uns wie Kolonisatoren verhalten, die nationale Mehrheit hat Minderheiten unterdrückt, als Sklavenhalter und Judenmörder."

Nach der Entscheidung in Stockholm führen Aktivisten rechtsextremer Gruppierungen diese Sätze wieder gegen Tokarczuk an; die dazugehörigen Internetforen waren voll von Schimpftiraden. Doch sämtliche politischen Amtsträger aus dem rechten Spektrum übten sich in Zurückhaltung. Ein Kommentator der konservativen Rzeczpospolita, die durchaus kritisch zur PiS-Regierung steht, verwies auf das Selbstverständnis der größten polnischen Schriftsteller in der Vergangenheit: Sie sahen es als ihre vornehmste Aufgabe an, die Herrschenden nicht zu loben, sondern zu ermahnen. Unter diesem Gesichtspunkt solle man auch auf das Werk Olga Tokarczuks schauen.

Die Jury des Literaturnobelpreises mag sich noch so häufig und routiniert auf das Kunstschöne, das Sprachlich-Poetische, der Politik Enthobene berufen: Dieser Preis hat immer politische Wirkung, auch, was niemanden überraschen sollte, im Jahr 2019.

© SZ vom 12.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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