Literaturnobelpreis 2020:Das sind die Favoritinnen und Favoriten für den Literaturnobelpreis

Nach der Doppelvergabe im vergangenen Jahr wird in diesem Jahr wieder nur ein Preis verliehen. Unter den Top Ten der Wettanbieter sind: sechs Frauen.

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(Foto: Dave Johnston/EdinburghEliteme/picture alliance)

Rang 10: Can Xue Geboren 1953 in Changsha, China Can Xue gilt als eine der wichtigsten experimentellen Autorinnen der Welt und wurde von Susan Sontag als aussichtsreichste Kandidatin Chinas für einen Nobelpreis bezeichnet. Sie gilt als die einzige Frau, die sich im Avantgarde-Literaturbetrieb Chinas (zu dem unter anderem Mo Yan, Yu Hua und Su Tong zählen) etablieren konnte. Die Tochter zweier Journalisten wurde in ihrer Kindheit - zur Zeit von Maos Kulturrevolution - in ein Umerziehungslager aufs Land geschickt. Erst im Alter von dreißig Jahren begann Can Xue zu schreiben. Die Essenz ihrer künstlerischen Mission, zitierte sie der New Yorker einmal, liege darin, "die Seelen der Menschen wachzurütteln". Bevor sie als Autorin erfolgreich wurde, eröffnete sie in den Achtzigerjahren mit ihrem Mann eine Schneiderei.

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(Foto: Will Olivier/AFP)

Rang 9: Yan Lianke Geboren 1958 in Luoyang, China Ein aussichtsreicher Kandidat, falls der Literaturnobelpreis mal nicht nach Europa oder Amerika vergeben wird, könnte auch der Chinese Yan Lianke sein. Ein in Europa praktisch unbekannter Autor - obwohl viele seiner Werke übersetzt wurden. Yan Lianke trat jung in die Armee ein und begann erst mit Anfang 30, literarisch zu schreiben. Das aber sofort sehr regimekritisch. In China sind die meisten seiner Werke verboten, etwa "Der Traum meines Großvaters", das auf einem realen Skandal basiert: Um Geld zu verdienen, spenden die Bewohner eines chinesischen Dorfes Blut und werden dabei fast alle mit Aids infiziert. Wie viele andere chinesische Autoren hat Yan Lianke in den vergangenen Jahren eine Strategie entwickelt, um der Zensur zuvorzukommen. Seine jüngeren Texte sind immer ironischer, allegorischer und fantastischer geworden. Zuletzt wurde mit Mo Yan vor acht Jahren ein chinesischer Autor ausgezeichnet.

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(Foto: imago/ZUMA Press)

Rang 8: Javier Marías Geboren 1951 in Madrid, Spanien "Nichts ist ganz und gar und unwiderruflich wahr, immer kann noch ein neuer Zeuge hinzutreten. Der einzige Ort, an dem das nicht so ist, sind Romane!", sagte Javier Marías 2015 in einem Interview mit der Zeit. Der spanische Schriftsteller, Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen, gilt als beachtenswerter Erzähler, aber auch als einer, der die Geduld des Lesers mit langen, ausufernden Sätzen herausfordert. Mit 19 Jahren verfasste er seinen ersten Roman, sein Buch "Mein Herz so weiß" wurde zum Bestseller. In Werken wie "Der Gefühlsmensch", "Alle Seelen" oder "Dein Gesicht morgen" schildert Marías die menschliche Seele mit all ihren Ausprägungen. In "So fängt das Schlimme an" schreibt der 69-Jährige über die Abgründe einer Ehe. Er setzt sich mit der Frage auseinander, was man über einen anderen Menschen wirklich wissen kann - und wie wir damit umgehen, wenn dunkle Geheimnisse gelüftet werden. In seinem jüngsten Werk "Berta Isla" erzählt Marías von einer Frau, der nicht nur ihr Mann abhanden kommt. Auch wenn der Spanier sich wie nur wenige andere Autoren der Menschenbeobachtung verschrieben hat, gilt sein Werk als zu wenig aussagekräftig für einen Literaturnobelpreis. Noch.

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(Foto: Christoph Hardt/Future Image/imago images)

Rang 7: Annie Ernaux Geboren 1940 in Lillebonne, Frankreich Annie Ernaux wurde in Frankreich schon für ihre ersten Bücher gefeiert. Für "Der Platz" erhielt sie 1984 den renommierten Prix Renaudot. In Deutschland wurde man erst 2017 auf sie aufmerksam, als "Die Jahre" ins Deutsche übersetzt worden war. Darin brachte sie ihre außergewöhnliche Schreib­methode zur Vollkommenheit: Annie Ernaux erzählt autobiografisch, aber alles Persönliche ist zugleich ­his­torisch, exemplarisch, soziologisch. Sie wird deshalb mit Proust verglichen, und die auch in Deutschland ziemlich bekannten Autoren Édouard Louis und Didier Eribon bezeichnen sie als ihre Meisterin. In letzter Zeit erschienen mehrere Ernaux-­Bücher nacheinander in deutscher Übersetzung, zunächst "Erinnerung eines Mädchens" von 2016, dann "Der Platz" über den Tod des Vaters, 2019 "Eine Frau" über den Tod der Mutter, beide in den Achtzigerjahren geschrieben. Und zuletzt 2020 "Die Scham" über das beharrliche Gefühl der eigenen Unwürdigkeit.

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(Foto: Alejandro Garcia/imago)

Rang 6: Ngũgĩ wa Thiong'o Geboren 1938 in Kamiriithu, Kenia Ewiger Favorit: Der Kenianer, der immer wieder als Anwärter auf den Literaturnobelpreis gehandelt wird, lebt und arbeitet im Spannungsfeld zwischen Englisch (dem Vermächtnis der einstigen britischen Kolonialherren) und Kikuyu - der Sprache von etwa acht Millionen Menschen, der größten ethnischen Gruppe Kenias. Bis heute ist Ngũgĩ wa Thiong'o, 81, tief geprägt vom Kampf um die Entkolonialisierung seiner Heimat in den 1950er und 60er Jahren, in den auch seine Familie verwickelt war. Weshalb er in den 1970ern beschloss, nicht mehr auf Englisch zu schreiben, denn: "Sprache war das Mittel der geistigen Unterjochung." Diese radikale Entscheidung und das Stück "Ich werde dich heiraten, wann ich will" (1977) brachten den Autor in Konflikt mit der damaligen Kenyatta-Regierung und zeitweilig ins Gefängnis. Der Literaturwissenschaftler ging ins Exil und unterrichtete unter anderem in Yale, New York und Kalifornien. Seine Bücher, "Decolonizing the Mind", das autobiografische "Träume in Zeiten des Krieges - eine Kindheit" oder der 1000-Seiten-Roman "Herr der Krähen" über einen größenwahnsinnigen fiktiven Despoten kreisen um Vergangenheit und Gegenwart Afrikas.

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(Foto: AFP)

Rang 5: Haruki Murakami Geboren 1949 in Kyoto, Japan Auch Haruki Murakami gehört zu den Langzeitkandidaten der Wettlisten zum Literaturnobelpreis. Sein Stil - oft surreal mit märchenhaften Elementen und zugleich vielen Bezügen zur internationalen Popkultur, besonders der Musik - hat weltweit Fans gefunden. Der Japaner, der zwischenzeitlich als Gastprofessor an US-Universitäten tätig war, hat sich außerdem mit prägenden zeitgeschichtlichen Momenten auseinandergesetzt. Etwa in dem Band "Untergrundkrieg", der Interviews mit Überlebenden und Opferangehörigen des Giftgasanschlags auf die Tokioter U-Bahn im Jahr 1995 enthält. Im sich verschärfenden Konflikt zwischen China und Japan publizierte Murakami 2013 einen Appell in der japanischen Presse: Nationalismus sei "wie billiger Alkohol", er mache "betrunken und hysterisch" - man müsse vorsichtig sein mit Politikern und Polemikern, die "diesen billigen Alkohol einschenken und Randale schüren". Im Interview mit dem SZ-Magazin 2010 erklärte Murakami, letztendlich gehe es ihm darum, "jungen Menschen zu zeigen, was Idealismus bedeutet".

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(Foto: AFP)

Rang 4: Maryse Condé Geboren 1937 in Pointe-à-Pitre, Guadeloupe Die Erforschung der eigenen Wurzeln ist das literarische Hauptmotiv der 82-jährigen Schriftstellerin Maryse Condé. Behütet aufgewachsen auf Guadeloupe, ging die damals 16-Jährige 1953 zum Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaften nach Paris und wurde dort zum ersten Mal in ihrem Leben mit Rassismus konfrontiert. Später verbrachte die Autorin zehn Jahre in Westafrika - auf der Suche nach ihren Vorfahren und in ständiger Konfrontation mit dem (Post-)Kolonialismus. Ihr zweibändiges Familien-Epos "Segu. Mauern aus Lehm" (1988) machte sie in den Achtzigerjahren international bekannt. In ihrer Familienbiografie "Victoire" (2018) erzählt sie vom Leben ihrer Großmutter und den ethnischen Konflikten auf Guadeloupe, die bis heute andauern. Neben Romanen schrieb Condé Theaterstücke und Kinderbücher, arbeitete als Korrespondentin für die BBC und als Literaturdozentin an der Columbia University New York und an der Sorbonne in Paris. Nur ein kleiner Teil ihres Werk ist bisher auf Deutsch übersetzt. Condé wurde 2018 der Alternative Literaturnobelpreis verliehen - von einer Initative, die sich nach den Missbrauchsskandalen der Schwedischen Akademie gegründet hatte.

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(Foto: imago/ZUMA Press)

Rang 3: Margaret Atwood Geboren 1939 in Ottawa, Kanada Margaret Atwood ist die erfolgreichste Autorin Kanadas und gehört nicht zum ersten Mal zum Favoritinnenkreis für den Nobelpreis. In ihren Büchern, die in mehr als 30 Sprachen erschienen sind, verarbeitet sie aktuelle gesellschaftspolitische Themen in Form von Science-Fiction-Erzählungen - und arbeitet sich so etwa an der gesellschaftlichen Stellung der Frau oder Umweltthemen ab. Ihr dystopischer Roman "Der Report der Magd" ("The Handmaid's Tale") aus dem Jahr 1985 tauchte nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten wieder auf den internationalen Bestsellerlisten auf und wurde daraufhin erfolgreich als Serie mit Starbesetzung verfilmt. Kurz gesagt: "The Handmaid's Tale" wurde Kult. Nach 34 Jahren erschien 2019 die Fortsetzung "Die Zeuginnen", die die Geschichte um das frauenfeindliche Regime zu Ende erzählt. Mit "Die Zeuginnen" steht Atwood auf der Shortlist für den diesjährigen Booker-Preis. 2017 wurde ihr der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen.

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(Foto: AFP)

Rang 2: Ljudmila Ulitzkaja Geboren 1943 in Dawlekanowo, Russland Ljudmila Ulitzkaja gelingt es, die großen historischen Wendepunkte in der jüngeren Geschichte Russlands anhand sehr persönlicher Schicksale zu erzählen. Themen wie den stalinistischen Terror, die Dissidentenbewegung in der Sowjetunion und den Untergang letzterer verpackt die 1943 geborene Ulitzkaja in komplexe, aber dennoch leicht zu lesende Alltagsbeobachtungen und Lebensläufe. Ulitzkaja arbeitete zunächst als Genetikerin, bis sie 1969 wegen illegaler Verbreitung von verbotener Literatur entlassen wurde. 1992 erschien in einer Moskauer Literaturzeitschrift ihre Novelle "Sonetschka", die schon kurz darauf weltweit verlegt wurde. Heute gilt Ulitzkaja mit Romanen wie "Das grüne Zelt", "Daniel Stein" oder ihrer autobiografisch angehauchten Textsammlung "Die Kehrseite des Himmels" als eine der einflussreichsten Schriftstellerinnen Russlands - und zugleich als scharfe Kritikerin der russischen Politik: "Ich schäme mich für mein ungebildetes und aggressives Parlament, für meine aggressive und inkompetente Regierung, für die Staatsmänner an der Spitze, Möchtegern-Supermänner und Anhänger von Gewalt und Arglist, ich schäme mich für uns alle, für unser Volk, das seine moralische Orientierung verloren hat", schrieb sie 2014.

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(Foto: AP)

Rang 1: Anne Carson Geboren 1950 in Toronto, Kanada Wenn es nach dem britischen Wettanbieter "Ladbrokes" geht, hat die kanadische Dichterin, Essayistin, Philologin und Übersetzerin Anne Carson in diesem Jahr die besten Chancen auf den Literaturnobelpreis. Carsons berufliche Beschäftigung - sie ist studierte Altphilologin und unterrichtet klassische griechische und römische Literatur - schlägt auch in ihren Büchern durch: In ihrem Versroman "Rot" überträgt sie die Geschichte von Geryon und Herakles in die heutige Zeit. Die Parallelität von Antike und Gegenwart durchzieht ihr umfangreiches Werk, ihr Stil changiert zwischen Prosa und Lyrik. Carson mag hierzulande wie ein Geheimtipp wirken, gehört in ihrer Heimat aber längst zu den bedeutendsten Dichterinnen der Gegenwart.

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