Kurzkritik:Loslassen lernen

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Der kanadische Pianist Jan Lisiecki bringt Melancholie zum Klingen

Von Paul Schäufele, München

Schwer werden die Dinge von selbst. Um sie leicht zu machen, bedarf es größerer Anstrengung. Das weiß, wer in Jan Lisieckis scheinwerferbeleuchtetes Jünglingsgesicht schaut: Beim Spiel verkrampft es, dabei schüttelt er die Locken, gelegentlich stampft er auf. Doch was von der Bühne in den Zuschauerraum des Prinzregententheaters klingt, sind schwerelose Mendelssohn-Piecen und Chopin-Nocturnes, deren subtile Anschlagskultur das Publikum begeistert. Dass das eröffnende Bach-Capriccio (BWV 992) etwas unmotiviert blass gerät, liegt vielleicht in der Natur der Sache. Das Stück "über die Abreise des sehr beliebten Bruders" ist Lisiecki in seiner programmatischen Anlage zu konkret. Ähnliches gilt für Beethovens G-Dur-Rondo Opus 129, das hier stellenweise impressionistisch aufgeweicht wird.

Lisieckis Sache sind poetische Miniaturen, die überkonkreten Aussagen von Mendelssohns "Liedern ohne Worte". Die Fähigkeit des Pianisten, innerhalb eines intellektuell stimmigen Interpretationsrahmens zu phantasieren, die Harmonie zu durchleuchten, lässt keine Gedanken an Gitarrenakkorde oder sonstige Realia aufkommen. Diese Lieder sind reine Stimmungsbilder, zum Klingen gebrachte Melancholie, vertonte Heiterkeit. Ein Stück wie die "Variations sérieuses" ist wie gemacht für den Kanadier. Hier wird vorgeführt, wie aus dem klassizistisch strengen Thema eine ungeheure Verdichtung von Satz und Atmosphäre entspringt. Differenzierte Artikulation und sparsamer Pedalgebrauch verleihen dem Werk Transparenz bis in die furiose Coda, die an Intensität gewinnt, gerade weil Lisiecki keine Extreme forciert.

Am deutlichsten wird das in seinen Chopin-Interpretationen: In keinen Stücken kommt er der angestrebten Klangsublimation näher als in den Nocturnes, doch das Finale der f-Moll-Ballade verlangt nach mehr entfesseltem Pathos. Doch auch wenn sich Lisiecki mit seiner makellosen Technik bei diesem Schluss mehr Loslassen erlauben könnte, wird er vom Publikum zurecht gefeiert.

© SZ vom 27.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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