Theater:Die Braut und die K.O.-Tropfen

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Auf Kampnagel noch aus der Abteilung "Euphorisches" zu sehen: eine Produktion von (La)Horde. (Foto: Fabian Hammerl/Fabian Hammerl)

Lauter Stücke über Gewalt, Missbrauch und kranke Männlichkeit: Das Sommerfestival auf Kampnagel riskiert etwas - und gewinnt.

Von Till Briegleb

Was macht ein gelungenes Festivalfinale aus? Lauter Stücke über Gewalt, Missbrauch und kranke Männlichkeit? Das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel, das mit Produktionen von (La)Horde, Miet Warlop und Walid Raad so euphorisch und humorvoll begonnen hatte, trat im zweiten Teil jedenfalls über in die düstere Zone. Nach dem Gastspiel der gerade in der Kritikerumfrage von "Theater heute" als beste Inszenierung des Jahres benannten Nacktperformance "Ophelia's got Talent" von Florentina Holzinger, bei der eine Akteurin in einer gynäkologischen Szene von ihrer Vergewaltigung durch einen Tätowierer berichtet, wurde die Gewalt gegen Frauen in der nächsten großen Produktion des Festivals zu einer opulenten Kunstreflexion über Misogynie.

In Zentrum von Carolina Bianchis fast dreistündiger Aufklärungsarbeit über Vergewaltigungen, Frauenmorde und künstlerische Verherrlichung von männlicher Gewalt stand die so berühmte wie tragische Performance "Brides on Tour" von Pippa Bacca und Silvia Moro im Jahr 2008. Die beiden italienischen Performerinnen wollten als Friedensmission in weißen Brautkleidern von Mailand über den Balkan bis in die Palästinensergebiete trampen, um einen Beweis dafür zu liefern, dass man Menschen doch vertrauen kann. Nachdem sie sich nach einem Streit in der Türkei getrennt hatten, weil Moro nicht in ein Auto steigen wollte, dessen Fahrer ihr unheimlich erschien, wurde Pippa Bacca nahe Istanbul vergewaltigt und erwürgt.

"The Bride and the Goodnight Cinderella", auf deutsch: Die Braut und die K.O.-Tropfen, nimmt diese schreckliche Geschichte über den missglückten Beweis des Guten als Grunderschütterung, um mit vielfältigen performativen Szenen die tragische Beziehung von Vertrauen und Gewalt zu entwickeln. Bianchi beginnt selbst mit einer Art Vorlesung zum Thema. Von Botticellis "Nastagio"-Zyklus, in dem ein Ritter eine nackte Frau jagt, tötet und an seine Hunde verfüttert, kommt der Bildervortrag über Beispiele teils blutiger Performances von Ana Mendieta oder Tania Bruguera zu Pippa Baccas Geschichte. Ihre Verstörung über die Brutalität gegen Frauen besprechend trinkt Bianca Gin Tonic mit K.O-Tropfen und fällt ins Koma.

Bewusst- und willenlos liegt sie auf der Bühne, während ihre Compagnie bedrückende Momente zu Femiziden in Brasilien und Mexico in Szene setzt. Mit vielen inhaltlichen Bezügen zu den nie aufgeklärten Hunderten von Frauenmorden in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juarez, zum brasilianischen Torhüter Bruno Fernandes de Souza, der die Nastagio-Geschichte auf seiner Ranch an seiner ehemaligen Geliebten Wirklichkeit werden ließ und dafür ins Gefängnis musste, und immer wieder mit Bezügen zu Pippa Bacca. Das Stück endet mit der nächsten gynäkologischen Szene. Die noch bewusstlos scheinende Regisseurin wird nackt so auf einem Kühler positioniert, dass das Publikum ihr frontal bei einer vaginalen Endoskopie zwischen die Beine blickt. Ein schonungsloses Stück Aufklärung, das weibliches Recht auf Unversehrtheit im K.O.-Stadium zeigt.

Bei der neuen Produktion der französischen Regisseurin Gisèle Vienne "Extra Life" setzte sich die düstere Transformation von Traumata in einer Zeitlupenchoreografie fort, die von zwei Geschwistern handelt, die als Zwölfjährige von "Onkel Jacky" vergewaltigt wurden. Beginnend mit einer typischen Kifferszene im Auto, in der Felix und Klara albern lachend über Menschen quatschen, die von UFOs entführt worden sein sollen, entwickelt sich die Dröhnung sehr langsam in schleppende und zuckende Tanzrituale.

Das Festival war besser besucht als Bayreuth

Kreisend um den kurzen Satz "Hör auf!" spaltet sich Klara zunächst in zwei Personen auf, und dieses Trio bewegt sich dann auf einer stark gebremsten Zeitspur zwischen Psyche und Realität. Umhüllt von einer beeindruckenden Lichtregie aus Nebel, Lasern und Schlaglichtern und untermalt von einer brachial verzerrten Form von Minimal Music choreografiert Gisèle Vienne ein gespenstisches Schleichen, das die Spätfolgen von sexuellem Missbrauch in Tanz übersetzt - ein moderner Danse Macabre.

Auch die Produktion "Good Sex" der irischen Gruppe "Dead Center" zu sexuellen Grauzonen rund um den Begriff "einvernehmlich", betrachtet aus der Perspektive von Intimacy Coaches am Filmset, setzte die Beschäftigung mit körperlichen Übergriffen fort. Allerdings eher als freundliche Mitmachkomödie ohne hohen Anspruch. Unter Anleitung einer Liebesberaterin wurden pro Abend zwei deutsche Film- und Theaterprofis (bei der Premiere Pheline Roggan und Mark Waschke) aus Übersetzungskabinen zum erotischen Sprechen und richtigen Anfassen geführt, so dass Sex "realistic, not real" wirkt. Das Ergebnis wirkte dann leider wie eine Me-Too-Soap im Big Brother-Ambiente.

Aus den diversen Bootcamps für saubere Geschlechtsverhältnisse führte schließlich die letzte Düsternis ins Mönchische. Die Weltpremiere von Aszure Bartons "AA/AB: B E N D" folgte farblich der schwarzen Grundstimmung der zweiten Festivalhälfte. Eine dunkle Leere, gefasst nur durch drei weiße Lichtringe, darin unterwegs schwarz uniformierte Kapuzenwesen. In diesem nächtlichen Minimalismus entwickelte die kanadische Choreografin die romantische Phantasie eines homogenen Kunstwerks. Mit schwebender Leichtigkeit und ohne Suche nach einer narrativen Botschaft zählte bei dieser tänzerisch perfekten Arbeit allein die Intelligenz der abstrakten Bewegung.

Im ständigen Wechsel von Duetten und Formationen und zu der rhythmisch extrem komplizierten Musik des Jazz-Trompeters Ambrose Akinmusire, der seine Klangsignale in kathedralen Hall tauchte, gestaltet Barton ihr Spiel koordinierter Muster. Das erzeugt Bewegungen, die mal an Quallen oder Seegras erinnern, mal an Battles von Break-Dancern, an ironische Varianten militärischer Märsche oder das Rollen einer Kurbelwelle. Und es lösen sich intime Romanzen des klassischen Balletts aus der Synchronität der Masse, die wieder eingefangen werden von lyrischen Kriegstänzen oder komischen Bewegungsfolgen, die aus bunten Musicals hergeleitet sein können.

Diese tänzerische Überwältigung einer Choreografie, die wirkt, als wolle sie die bedrohliche Zersplitterung unserer Zeit mit einer starken Geste verbindender Kraft heilen, beendete dann unter stehenden Ovationen ein Festival, das eine beeindruckende Menge besonderer Produktionen versammeln konnte. Das seit vielen Jahren von András Siebold kuratierte Internationale Sommerfestival hatte diesmal in der Konzentration auf aussagestarke Themenprojekte und ironische Kommentierungen von Zeitthemen ihre vielleicht stärkste Auswahl. Eingebunden in eine einladende Festivalatmosphäre mit gelöster Stimmung und vielen Konzerten war diese große Sommerkultur auch noch besser besucht als Bayreuth.

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