100 Jahre Museum Folkwang:Farbrausch und Visionen

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Der Sammler schickte Kronen, Egon Schiele schickte Kunst. Wie sein Selbstbildnis mit gesenktem Kopf" (1912). (Foto: Manfred Thumberger/AT, Wien, Leopold Museum)

Das Museum Folkwang in Essen zeigt in einer umfassenden Ausstellung anlässlich seines hundertjährigen Bestehens, wie eng die Künstler des Expressionismus mit Folkwang-Gründer Karl Ernst Osthaus zusammenarbeiteten.

Von Alexander Menden

Im Herbst des Jahres 1910 unternahm der Industriellen-Erbe und Gründer des Hagener Folkwang-Museums, Karl Ernst Osthaus, eine Reise nach Wien. Unter den bei dieser Tour erworbenen Kunstwerken befanden sich auch zwei Zeichnungen eines jungen Malers namens Egon Schiele. Im darauffolgenden Jahr schrieb der erst zwanzigjährige Schiele mehrere Briefe an Osthaus, in denen er den Sammler nachdrücklich ("Ich bitte Sie aufrichtig!") darum ersuchte, weitere Werke zu kaufen, von denen er gleich ein paar mitgeschickt hatte. Er brauche dringend 200 Kronen: "Nehmen Sie 6 oder 8, soviel sie wollen." Osthaus nahm alle Bilder und bot 250 Kronen.

Eine Vitrine mit dem Briefwechsel zwischen Wien und Hagen, der sich in den folgenden Jahren bis zu Egon Schieles frühem Tod im Oktober 1918 entspann (Schieles Schreiben in zackigem Sütterlin, die Antworten von Osthaus' Sekretärin maschinengetippt), sind ein Highlight der Ausstellung "Expressionisten am Folkwang". Mit ihr setzt das Essener Museum Folkwang die Feiern anlässlich seines hundertjährigen Bestehens fort, die mit einer Impressionisten-Schau im Frühjahr begannen.

Der hiesige Bestand basierte auf der von Osthaus ursprünglich in Hagen zusammengetragenen und nach seinem an die Stadt Essen und den dortigen Museumsverein verkaufte Sammlung; dazu zählten eben auch Werke Egon Schieles. Dessen Schreiben sind von Geldknappheit bestimmt, Osthaus antwortet stets höflich, ja besorgt, und kauft, wo es ihm finanziell möglich ist, unter anderem das Gemälde "Die kleine Stadt I (Tote Stadt VI)". Osthaus organisierte in Hagen 1912 auch die erste museale Einzelausstellung Schieles überhaupt, und die einzige zu Lebzeiten des Künstlers.

Selten gezeigt: empfindliche Blätter von Egon Schiele

Einige der Blätter, von denen die Essener Kuratoren vermuten, dass sie sich in Osthaus' Sammlung befanden, wurden aus dem Leopold-Museum in Wien ausgeliehen, die "Tote Stadt", heute in Zürich, ist ebenfalls zu sehen. Besonders fällt ein Selbstporträt auf Papier ins Auge, aus dem Schiele mit dichtem rotem Schopf den Betrachter aus ebenso roten Augen konzentriert anstarrt. Eine seltene Gelegenheit, solche Arbeiten lagern gewöhnlich aufgrund ihrer Lichtempfindlichkeit im Depot. Dieser "Wiener Raum", in dem unter anderem auch eine Kokoschka-Zeichnung Alma Mahlers zu sehen ist, würde für sich genommen den Besuch in Essen lohnen.

Empfindliche Papier-Arbeiten wie Erich Heckels Farbholzschnitt "Zwei ruhende Frauen" (1909) werden selten gezeigt. (Foto: Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen/Museum Folkwang, Essen)

Überaus lohnend ist jedoch die ganze Ausstellung. Das liegt natürlich unter anderem daran, dass die gezeigten Arbeiten von Künstlern wie Edvard Munch, den Malern des Blauen Reiters und der Brücke und Paula Modersohn-Becker, von Bildhauern wie Wilhelm Lehmbruck und Ernst Barlach fast durchgehend von erster Qualität sind. Das Besondere an dieser Schau ist jedoch die enge, endlos faszinierende historische Rückbindung an die Geschichte der Folkwang-Sammlung.

Zwischenzeitlich war sie aufgrund der Beschlagnahme von rund 1400 als "entartet" eingestuften Werken durch das NS-Regime - das größte Einzelkonvolut dieses Kahlschlags überhaupt - in alle Winde verstreut. Manche konnten zurückerworben werden, viele landeten in Privat- oder anderen Museumssammlungen. Der Nachvollzug der komplizierten Provenienz der gezeigten Arbeiten ist spannend. Ein eigener Raum befasst sich mit der Ausstellung "Entartete Kunst", die riesige Liste der beschlagnahmten Werke nimmt eine ganze Wand ein. Allein rund 500 Werke Emil Noldes waren darunter, der ein besonders enges persönliches Verhältnis zu Karl Ernst Osthaus hatte, und dessen aufgrund seiner politischen Nähe zum Nationalsozialismus politisch höchst kompromittierte Biografie in der Essener Ausstellung auch beleuchtet wird.

Die Ausstellung ist wegen der Qualität der Exponate, etwa Wassily Kandinskys "Landschaft mit Kirche (Landschaft mit roten Flecken I)" aus dem Jahr 1913, unbedingt sehenswert. (Foto: Museum Folkwang, Essen)

Vor dem tiefen Einschnitt der Beschlagnahme steht aber zunächst die Genese der ursprünglichen Sammlung: Osthaus bemühte sich wie kaum ein anderer um die Förderung zeitgenössischer Künstler, und das schlägt sich auch in den Arbeiten nieder. Da ist etwa der zart auskonturierte "Kopf eines Knaben", den Wilhelm Lehmbruck 1912 bei einem Besuch von Osthaus' Frau Gertrud in seinem Pariser Atelier anfertigte, als Porträtskulptur ihres Sohnes Wilhelm. Die Büste gelangte aus ungeklärten Gründen nicht in die Folkwang-Sammlung und ist heute im Duisburger Lehmbruck-Museum. Im April desselben Jahres, zur selben Zeit wie die Schiele-Ausstellung, wurden jedoch mehrere andere Skulpturen Lehmbrucks in Hagen gezeigt.

Die "Brücke" hatten dem Sammler die passive Mitgliedschaft angeboten

Die beiden zentralen Künstlergruppen, die Maler der "Brücke" und des "Blauen Reiters" waren besonders erpicht auf eine Zusammenarbeit mit Osthaus. August Macke schwärmte schon 1908 nach einem Besuch des Folkwang-Museums von einer "ausgewählt schönen Sammlung, wie sie wohl selten zustandekommt". Franz Marc, der das Museum als "in seiner Art schon ein Vorbild unseres Gedankenganges" bezeichnete, stellte 1911 in einer Einzelausstellung in Hagen aus. Osthaus kaufte daraufhin Marcs "Weidende Pferde IV". Im Juni und Juli des folgenden Jahres machte die "Erste Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter" in Hagen Station, Osthaus kaufte Kandinskys "Improvisation 28".

Die "Brücke" hatte dem Sammler 1906 die "passive Mitgliedschaft" angeboten. Diese nahm er zwar nicht an, organisierte aber zwei "Brücke"-Ausstellungen, 1907 und 1910. Ein Saal in Essen ist dieser Schau gewidmet. Es geht kuratorisch, was gerade bei Expressionisten ungewöhnlich ist, aber nicht notwendigerweise darum, Künstlergruppen gemeinsam zu zeigen. Bei den-"Brücke"-Mitgliedern etwa liegt der Schwerpunkt ganz klar bei Ludwig Kirchner. Er blieb nach dem Ende der Vereinigung in sehr regem Kontakt mit Osthaus. Dieser versuchte etwa, Kirchner während des Ersten Weltkrieges einen öffentlichen Auftrag für eine heroische Skulptur zu verschaffen. Nicht sehr überraschend scheiterte dieses Projekt zwar. Doch Kirchners Verbindung zu Folkwang blieb, auch nach dem Tod von Osthaus und dem Umzug nach Essen.

Karl Ernst Osthaus war Künstlern der Brücke wie Ernst Ludwig Kirchner eng verbunden, hier dessen "Doris mit Halskrause" (um 1906). Er organisierte gleich zwei Brücke-Ausstellungen. (Foto: Fundación Colección Thyssen-Bornemisza, Madrid)

Einige wunderbare und unerwartete Arbeiten Kirchners aus der Folkwang-Sammlung, darunter die in spektakulären Blau- und Rottönen gehaltene Druckgrafik "Wintermondnacht" (1919), sind in der Schau zu sehen. Auch ein, letztlich ebenfalls nicht zur Umsetzung gekommenes Projekt, für das Kirchner das Essener Museum mit Wandgemälden ausschmücken sollte, wird anhand zum Teil sehr hitziger Korrespondenz mit Folkwang-Direktor Ernst Gosebruch nachvollziehbar.

Als "Unterlassungssünde, die unser aller Gewissen belastete", beschrieb 1958 der Kritiker der Zeit, Eduard Trier, anlässlich der großen "Brücke"-Ausstellung in Essen die Behandlung der Expressionisten in Deutschland vor und während der Nazi-Ära. Davon, dass diese Sünde mit der beginnenden Neubewertung nach dem Krieg "getilgt" war, wie Trier meinte, konnte natürlich keine Rede sein. Das Unverständnis, mit dem man diesen Künstlern begegnete, dann das Verbot ihrer Arbeiten, würde noch Jahrzehnte der Aufarbeitung und Einordnung bedürfen. Diese Einordnung des Expressionismus dauert bis heute an. Dass eines der Ergebnisse eine so ästhetisch fesselnde, kunsthistorisch überraschende Ausstellung wie die Essener Jubiläumsschau ist, beweist einmal mehr, welch ein wagemutiger, visionärer Geist Karl Ernst Osthaus war.

"Expressionisten am Folkwang: Entdeckt - verfemt - gefeiert" im Museum Folkwang, Essen, bis 8. Januar 2023. museum-folkwang.de. Der Katalog kostet 38 Euro

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