Ausstellung am Stuttgarter Kunstmuseum:Die Baumeisterin

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Die Künstlerin Gego in ihrem Atelier in Caracas, 1985. (Foto: Gerd Leufert/ © Archivo Fundación Gego)

Die Architektur hat Gertrud Goldschmidt alias Gego das Leben gerettet: Eine Ausstellung erzählt jetzt von ihren Stuttgarter Studienjahren während der NS-Zeit.

Von Catrin Lorch

Gertrud Louise Goldschmidt ist im Jahr 1938 eine ein wenigen jüdischen Studentinnen im Deutschland, die Technische Hochschule in Stuttgart hatte damals noch "Nicht-Arier" aufgenommen. Goldschmidt, 26, hatte schon alle Scheine in ihrem Fach Architektur abgelegt, ihr Abschlussprojekt war fertig. Die obligatorischen Ringvorlesungen zur nationalsozialistischen Ideologie wie "Aufgaben und Ziele der Wehrpolitik" durfte sie nicht besuchen, Englisch-Unterricht erhielt sie im Haus ihres Dozenten. Zwei Wochen nach der Reichspogromnacht legte sie ihre Prüfung ab. Sie war eine der letzten Juden, die noch ein Zeugnis erhielten. Das Dokument rettete ihr Leben.

Gertrud Goldschmidts Bitten um Aufenthaltsgenehmigungen in England und Australien wurden abgelehnt, aber als Architektin erteilte ihr Venezuela ein Visum. Und obwohl sie halb verzweifelt an ihre Eltern in England kabelte "Französisch dürftig, Spanisch und Italienisch nicht existent", reist sie am 2. Juni 1939 über England nach Caracas. Es ist für Gertrud Goldschmied das Ende ihrer deutschen Biografie. Unter dem Künstlernamen Gego wird sie eine der bedeutendsten Künstlerinnen im Südamerika des 20. Jahrhunderts werden.

Eine Ausstellung im Stuttgarter Kunstmuseum unter dem Titel "Gego. Die Architektur einer Künstlerin" beschäftigt sich jetzt noch einmal mit der Zeit, in der Gego noch Gertrud Goldschmidt war. Dass ein Museum das Frühwerk einer Exilierten erforscht, deren Werk noch nicht einmal zur eigenen Sammlung gehört, ist selten. Stuttgart - das in diesem Jahr zum Museum des Jahres gewählt wurde -, hat jedoch Mittel akquiriert und eine Kunsthistorikerin für drei Jahre eingestellt, um ein Konvolut von mehr als 100 Werken aus dem Nachlass aufzuarbeiten. Die Dauerleihgabe blieb nach der epochalen Ausstellung "Gego. Line as an Object" am Haus, die in Hamburg und Stuttgart gezeigt wurde und - endlich - das Werk der im Jahr 1994 verstorbenen Künstlerin in ihrem Heimatland wieder bekannt machte, das im wirtschaftlich verarmten Caracas auch kaum präsentiert und schon gar nicht wissenschaftlich aufgearbeitet werden kann.

Ausgerechnet für Stuttgarter gibt es in der Schau viel zu entdecken

Doch weil mit den Zeichnungen, Grafiken, Objekten auch das Studium in den frühen Dreißigerjahren einer nahsichtigen Betrachtung unterzogen wurde, gibt es einige Überraschungen für das Stuttgarter Publikum. Erstmals wurde nun beispielsweise das Curriculum der Universität analysiert, an der sich die im Jahr 1912 in Hamburg geborene Studentin immatrikulierte, wohl weil diese Hochschule eine der fortschrittlichsten in Deutschland war, nachdem das Bauhaus geschlossen wurde. Auf der Karteikarte kennzeichnen ein roter Balken und die gelbe Farbe die Studentin allerdings als Frau und als Jüdin.

Für das "Belegbuch" ließ sich Gertrud Goldschmidt dennoch selbstbewusst im Anzug mit Krawatte fotografieren. Ihr Studium wurde von engagierten Professoren unterstützt - darunter vor allem auch dem heute als Traditionalisten verschrieenen Paul Bonatz. Die Lehrer wissen, dass ihre Studentin nur so noch eine letzte Chance auf eine legale Emigration erhält. Und in der Stadt, in der mit der Mustersiedlung Weissenhof eines der bedeutendsten Wohnprojekte der Weimarer Republik entstand, findet die Studentin zudem inspirierende Mentoren: sie belegt Kurse beim Maler und Grafiker Karl Schmoll von Eisenwerth, arbeitete als Praktikantin bei Bodo Rasch, einem Autodidakten, Designer und Visionär, der nicht nur an freischwingendem Stuhldesign forscht, sondern auch bei Aufführungen von Kurt Schwitters "Ursonate" mitwirkt und in regem Austausch mit Buckminster Fuller steht. Mit Rasch wird sie auch nach ihrer Emigration bis in die Siebzigerjahre in regem Brief-Kontakt stehen.

Die Kunst kommt von der Linie: Gegos "Bicho 89/8" (1989). (Foto: Foto: Frank Kleinbach/Colección Fundación Gego. Dauerleihgabe im Kunstmuseum Stuttgart © Archivo Fundación Gego)

Vor allem aber lernt Gertrud Goldschmidt räumliches Denken, den Umgang mit technischen Materialien und das Medium der Zeichnung, die Verwendung der Linie, wenn es darum geht, Ideen und Gedanken auf das Papier zu bringen. Später wird sie auf Spanisch über den Wert der Linie, die sie dann "Sabiduras" nennt, schreiben. Die Kuratorin und Kunsthistorikerin Stefanie Reisinger führt das spätere Werk der Künstlerin nachdrücklich auch auf diesen Teil der Ausbildung zurück: "Lange bevor Gego sich Mitte der 1950er Jahre in Venezuela entscheidet, Künstlerin zu werden, baut sie sich in Deutschland ein kreatives Grundgerüst für ihr späteres künstlerisches Schaffen."

Sie entwarf "Kunst am Bau", bevor es dafür einen Namen gab

Tatsächlich ist Goldschmidt hervorragend ausgebildet, als sie in Caracas eintrifft, wo die versprochene Stelle allerdings schon vergeben ist. Doch die Stadt, in der sie mehr oder weniger zufällig gelandet ist, ist ein Glücksfall. Caracas soll in einer gewaltigen Reform zu einer bürgerlichen Metropole werden. Geld ist da: Venezuela ist gerade zum zweitgrößten Öllieferanten weltweit aufgestiegen. Und die Welle der Modernisierung spült vor allem Einwanderer aus Europa ins Land. Gego wird gerade noch miterleben, wie Kolonialbauten und Haziendas verschwinden und dafür so atemberaubende Projekte wie die Ciudad Universitaria de Caracas entstehen. Carlos Villanueva, der maßgebliche Architekt, bezieht auch die Kunst ein in "eine neue Synthese der verschiedenen Formen des Ausdrucks" - Sinnbild ist für ihn das Kristalline.

Gego wird den Bauboom zunächst als Innenarchitektin mit Entwürfen für Restaurants, Bars und Nachtclubs begleiten. Für ihre eigene Familie entwirft sie dann Ende der Vierzigerjahre auch eine Villa, sie hat den deutschen Geschäftsmann Ernst Gunz geheiratet, gemeinsam eröffnen sie eine Werkstatt für Lampen und Möbel. Doch die studierte Ingenieurin schlägt in den Fünfzigerjahren dann einen anderen Weg ein und wird Künstlerin. Gego arbeitet an Parallelarchitekturen, entwirft schon in den Sechzigerjahren Werke, die man heute als Kunst am Bau definieren würde wie ihre "Treppe aus Aluminium", die mit dem umgebenden Gebäude zu verschmelzen scheint.

Diese Großprojekte machen sie in ganz Südamerika berühmt, zudem ist sie als Lehrerin - unter anderem mit ihrem Grundkurs "Taller Gego" - einflussreich. Vor allem ihre Skulpturen im Stadtraum zehren davon, dass sie nicht nur Maßstab und Konstruktion studiert hat, sondern auch Bautechniken und Materialien. Schon 1974 stellt die lateinamerikanische Kunstkritikerin Marta Traba anerkennend fest: "Ohne diese technisch-professionelle Grundlage wäre es ihr nicht möglich gewesen, ihr Werk zu realisieren."

Gego. Die Architektur einer Künstlerin. Kunstmuseum Stuttgart. Bis 10. Juli. Der Katalog kostet 35 Euro.

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